Die einfachen Leute |
Warum stehen wir
jeden Tag in der Früh auf und tun, was wir zu tun haben? Was motiviert uns,
unsere 'Pflicht' zu tun? Warum sind wir im Nachhinein mit so Manchem, was wir
getan haben, zufrieden, aber mit so manchem Anderen unzufrieden? Was gibt uns das
Gefühl, dass etwas recht oder unrecht war? |
Wenn es um die 'großen Regeln' einer Gesellschaft geht, um das was 'sich gehört' und was nicht, so gibt es ein paar gescheite Leute, die darüber gründlich nachdenken und angelegentlich diverser Anlässe klug reden und schreiben; und es gibt ein paar, die dabei zuhören oder solche Texte sinnerfassend lesen. Es ist durchaus interessant und kann sogar Spaß machen, sich über den 'Sinn des Lebens' und das 'Große und Ganze' Gedanken zu machen. Es ist möglich, aus solchen Gedanken Kraft zu schöpfen, vielleicht sogar jene Kraft, die man braucht um jeden Tag frühmorgens aufzustehen, um seine 'Pflicht' (oder was auch immer) zu tun. Ich bezweifle allerdings, dass die zahlreichen Gesellschaften dieser Welt aus einer solchen Motivation heraus funktionieren. Die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen funktioniert ganz anders. |
1988 hat Thomas Bernhard im Stück 'Heldenplatz' mit der Aussage für Empörung gesorgt, der Großteil seiner Landsleute ("sechseinhalb Millionen") wären Debile und Tobsüchtige. Naturgemäß kann man diese Aussage als literarische Dramatisierung einstufen. Zudem bleibt das Stück eine Definition schuldig, was denn unter einem Debilen bzw. einem Tobsüchtigen zu verstehen sei. Trotz aller Unschärfen dieser Bezeichnungen fürchte ich, dass sich auch im Jahr 2014 nicht viel an dieser traurigen Diagnose geändert hat. Die überwiegende Mehrzahl in Österreich sowie in allen anderen Ländern dieser Welt versucht nicht einmal, das Leben und die Welt zu verstehen. Sie sind meilenweit davon entfernt, sich aus der 'selbstverschuldeten Unmündigkeit' zu befreien, und sie kämen nie auf den Gedanken, dass sie selbst und nur sie selbst zuständig und aufgefordert sind, ein Leben zu führen, wie sie es selbst für richtig halten. |
Wir Klugen, wir Wissenden, wir, die wir schon von Immanuel Kant gehört und gelesen haben, die wir in groben Zügen gelesen und so einigermaßen verstanden haben, was auf dieser Welt passiert ist, soweit man es wissen kann aus dem, was in den letzten 5000 Jahren zu Stein, zu Papier und zu Pergament gebracht wurde; wir neigen manchmal dazu, über die weniger Wissenden zu seufzen, ätzende Bemerkungen zu machen (wie Bernhards Protagonist im Stück) und sich ihnen überlegen zu fühlen. Dabei sind auch wir auf die große Gemeinschaft angewiesen: Wer repariert denn unsere Autos? Wer baut unsere Häuser? Wer schraubt und lötet unsere Computer und Smartphones zusammen? Wer füttert die Hühner, schlachtet die Schweine, holt die Kartoffeln aus dem Acker? Wer bäckt das Brot? |
Lauter Menschen, die jeden Tag morgens aufstehen, um ihre Pflicht zu tun. Wer erklärt ihnen allen, warum sie tun sollen, was sie zu tun haben? Wenn sie fragen, für wen und warum, wie lautet unsere Antwort? Kann es genügen, ihnen zu sagen: Ihr tut es für euch selbst und für Euresgleichen? Werden sie es nicht genauer wissen wollen? Werden sie nicht fragen: Wer sind denn die, die uns angeblich gleichen? Und was tun sie für mich, wenn schon von mir erwartet wird, dass ich mich abplage für sie? |
In kaum einer Gesellschaft dieser Welt werden Fragen dieser Art gestellt, von zufrieden- stellenden Antworten ganz zu schweigen. Die meisten Gesellschaften rekurrieren bei Fragen dieser Art auf vage, nebulose Begriffe, die das Gemeinwohl mythisch überhöhen: Patriotismus, Heimatliebe. Jede Gesellschaft hat dafür ihre eigenen Namen und Symbole, Erzählungen und Rituale. Und es sind genau diese banalen Klischees, über die wir Wissenden gerne die Nase rümpfen, die aber dem 'kleinen Mann' genügen für seine Motivation. |
Ich rate uns: Rümpfen wir sie nicht, die Nasen, sondern kümmern wir uns liebevoll um diese Klischees. Wir brauchen sie, unsere Gesell- schaften sind auf sie angewiesen. Wir brauchen Patriotismus und Heimatliebe, auch wenn das Objekt dieser kollektiven Zuneigung genauso wenig rational fassbar ist wie die treue Liebe des Fußballfans zu seinem Verein. Der Mensch braucht ein Zugehörigkeitsgefühl; zu einem solchen gehört unausweichlich auch die Abgrenzung von Menschen mit anderen Zugehörigkeitsgefühlen. |
Das Gefühl einer definierten Gemeinschaft anzugehören lässt sich nicht ersetzen durch das Gefühl, einer die ganze Menschheit umfassenden Gemeinschaft anzugehören. Ein solches 'allumfassendes' Gefühl gibt es zwar auch - und soll, ja muss es auch geben (Stichwort: Menschenrechte) - kann aber unserer Sehnsucht nach klar definierter, sich von anderen abgrenzender Zugehörigkeit nicht genügen. Viele mögen diese Unverzichtbarkeit dumm und bedenklich, ja bedrohlich finden, sie ist aber eine Tatsache und wurzelt in den verhaltens- biologischen Grundlagen unserer Primaten- spezies. Wir können uns nur bemühen, das Beste daraus zu machen. |
Kein Mensch kann wahrhaft glücklich und zufrieden sein, der dieses Grundbedürfnis aus seinem Alltag verbannt. Menschen, denen das Gefühl einer selektiven Zugehörigkeit abhanden gekommen ist oder die es nie erlebt haben, fühlen sich leer und überflüssig. Jene, die einem 'Weltbürgertum' das Wort reden, meinen damit im Grunde auch nur sich selbst und Ihresgleichen, eine schmale Minderheit, die über die notwendigen Mittel verfügt, sich virtuell und physisch in der von ihr gemeinten 'Welt' zu bewegen. In dieser schmalen Schicht fühlen sie sich zu Hause, grenzen sie sich ab und schwimmen sie wie der Rahm oben auf der frischen Milch. Sie rümpfen die Nasen über die jeweiligen Zugehörigkeitsgefühle der einfachen Leute, und sind doch auch nur Teil diverser (wenngleich internationaler) Cliquen. |
Die Welt besteht aus Gesellschaften ver- schiedenster Art, so wie ein gesunder Wald aus Bäumen verschiedenster Art besteht. Unsere jeweilige Zugehörigkeit zu kleineren und größeren Gruppen war immer schon Quelle großer Freude und Zufriedenheit, und wurde doch auch immer wieder Ursache für Katastrophen monströser Ausmaße. Wir können versuchen, dem Menschen seinen spontanen Hang zu Zugehörigkeits- gefühlen auszutreiben. Ich glaube aber nicht, dass wir damit eine Wiederholung vergangener Katastrophen verhindern werden, denn damit entziehen wir den Menschen eine der wichtigsten Quellen ihrer Zufriedenheit. |
Die natürliche Sehnsucht des Menschen nach Zugehörigkeit muss gestillt werden, und zwar nicht nur zum Schein (wie auf dem Fußballplatz), sondern durch reale Interaktion mit Auswirkungen auf die praktischen Lebensvollzüge. Wenn wir das nicht sinnvoll planen, wird es immer wieder 'von selbst' geschehen, auf Weisen die nur schwer zu kontrollieren sind. Wir müssen den Menschen in all seinen Dimensionen ernst nehmen, nur dann wird es uns gelingen, die Zukunft der Gesellschaften in friedlichen Bahnen zu halten. |
3/14 < MB 6/14 > 7/14 Society as a complex system |
siehe auch: Die Herrschaft der Dummen |