Der neue globale Code |
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Wenn man kluge Menschen fragt, wie man Gerechtigkeit zu üben hat an Menschen, dann sagen sie zurecht, daß alle Menschen gleich sind und gleiche Rechte und Pflichten haben. Und ganz kluge Menschen haben diese Rechte und Pflichten in 30 Artikel mit insgesamt über 8.000 Worten gegossen. In diesen Artikeln ist Punkt für Punkt aufgelistet, worauf jeder einzelne von uns ein Anrecht hat, "als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal" (Präambel). |
Wissen Sie, was alles zu diesen Rechten gehört? So manches Detail wird Sie vielleicht überraschen. Wenig überraschen wird Sie, daß in dieser Erklärung Sklaverei (Art. 4) und Folter (Art. 5) abgelehnt werden. Es gibt ein Recht auf Privatleben (Art. 12), auf freie Meinungsäußerung (Art. 19), auf freie Wahl des Wohnsitzes (Art. 13), auf freie Religionsausübung (Art. 18). Auch darf niemand willkürlich eingesperrt werden (Art. 9), und jeder Beschuldigte hat ein Recht auf ein faires Verfahren (Art. 10). |
Soweit, so gut. Aber wußten Sie auch, daß diese Erklärung jedem das Recht einräumt, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen (Art. 16)? Das Recht auf eine Staatszugehörigkeit (Art. 15)? Das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen (Art.14)? Das Recht auf Eigentum (Art.17)? Auf Arbeit und freie Berufswahl (Art. 23)? Auf angemessene Entlohnung (Art. 23/3)? Auf bezahlten Urlaub gar (Art. 24)? |
Wußten Sie das? |
Art. 25 fordert für jeden Menschen "einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände." |
Da staunen Sie, nicht wahr? |
Art. 26 fordert für jeden Menschen Bildung, die zum mindesten (!) in den Grundschulen unentgeltlich ist. Die Erklärung betrachtet übrigens den Grundschulunterricht als obligatorisch (!). Auch höhere Studien "sollen allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offen stehen". Zwar wird in erster Linie den Eltern das Recht eingeräumt, "die Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen"; doch wird explizit festgehalten daß die Ausbildung "die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" zum Ziele haben und "Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern" soll. |
Sprachlos? |
Es geht noch weiter. Laut Art. 28 hat jeder Mensch "Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können." Beschränkungen werden Menschen nur dort auferlegt, wo Rechte und Freiheiten anderer beeinträchtigt werden (Art. 29). |
Jetzt erhebt sich natürlich die berechtigte Frage: Wer setzt all diese Rechte durch? Wer sorgt für diese wunderbare "soziale und internationale Ordnung", in der das alles verwirklicht werden kann? Ein global vereinheitlichtes Rechtssystem mit global vereinheitlichten Gerichtshöfen? Wer soll darüber befinden, ob Umstände verschuldet oder unverschuldet sind (Art. 25)? Wer beurteilt, wodurch die menschliche Persönlichkeit voll entfaltet wird, und wodurch nicht (Art. 26)? |
Sie sehen schon: Das Verfassen von Artikeln ist eine Sache, und ihre Umsetzung eine ganz andere. Wenn wir uns spontan gegenüber Menschen verhalten, so denken wir meistens nicht an diverse Artikel und Paragraphen. Die meisten Menschen wären ziemlich beleidigt wenn sie den Eindruck hätten, wir würden mit ihnen nur aufgrund dieser und jener Vorschriften umgehen. Vorschriften und Gesetze sind eigentlich nur Notfallmaßnahmen, falls einfache menschliche Umgangsformen mißlingen. |
In einer "guten Gesellschaft" müssen die einfachen Umgangsformen gelingen. Dieses Gelingen ist eine hohe Kunst, die nicht so einfach vom Himmel fällt und auch nicht mit Artikeln verordnet werden kann. Eine "gute Gesellschaft" lernt diese Kunst über viele Generationen und bewahrt sie in Form von kollektiv geübten Verhaltensweisen, ohne im Detail darüber nachdenken zu müssen. Wir sind gerade Zeugen des chronischen Verschwindens dieser alten vielfältigen Soziotope. |
Schleichend werden sie verdrängt vom neuen globalen Code: monoton, stereotyp, flach. Viele werden sagen, es sei nicht schade um die alten Soziotope - vor allem unter dem Eindruck der Verheerungen des 2. Weltkriegs, in dem "Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen" (Präambel). Die Frage ist nur, ob 30 ehrgeizige Artikel ähnliche Barbareien in Zukunft verhindern können. |
Die 30 Artikel der Menschenrechtserklärung sprechen jedem einzelnen Menschen Rechte zu als Individuum und Person, explizit "ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand" (Art. 2). Damit wird das einzelne Individuum zum Maß aller Dinge; kollektive soziale Phänomene werden ihm nachgeordnet und dienen nur noch der Befriedigung seiner Bedürfnisse. |
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stellt damit zwar den Einzelnen unter Schutz, nicht jedoch die Gruppe als Kollektiv und humanspezifisches Phänomen. Im Gegenteil: das Kollektiv wird unter Beobachtung gestellt und verdächtigt, die Rechte Einzelner zu verletzen. Dieses radikale Mißtrauen gegenüber Sozietäten mag zwar nach den bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts verständlich sein, darf aber nicht den Blick auf das Wesentliche der menschlichen Natur trüben. |
Wie schon die Alten wußten, ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen (zoon politikon bei Aristoteles). Er ginge seiner ureigensten Natur verlustig, würde man ihn primär als Individuum sehen und seine persönlichen Rechte über die Gemeinschaft stellen. Am Ende führt diese Strategie zu Heerscharen einsamer, unglücklicher Menschen - deren Rechte geachtet werden. |
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MB
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