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Aufstieg und Fall einer Empfindung

Vor 50 Jahren, da war das noch was. Da haben die Großeltern uns staunende Kinder an der Hand genommen und durch den Flughafen geführt. Staunend verfolgten mein kleiner Bruder und ich die startenden und landenden Maschinen, die exotische Namen trugen wie Caravelle und Superconstellation; und Stolz erfüllte unsere junge Brust beim Anblick so mancher rot-weiß-rot leuchtender Heckflosse.
Und in der Ankunftshalle starrten wir voll Bewunderung und heimlichem Neid auf die Ankommenden, die lässig der für uns unerreichbaren Barriere entstiegen und oft von wartenden Angehörigen in die Arme geschlossen wurden, als wären sie einer tückischen Gefahr mit heiler Haut entronnen, Helden gleich.
Damals hieß es noch etwas, zu fliegen. Das konnte sich nicht jeder leisten. Geflogen zu sein war praktisch gleichbedeutend mit reich zu sein. Und unser damaliger Ausflug war also nicht nur ein Flugzeug-Schauen, sondern gewährte auch einen diskreten Blick auf jene, die reicher und wichtiger waren als wir.
Als ich dann viele Jahre später (anno 79) selbst zum 1. Mal flog, war es wieder ein besonderes Ereignis. Da hatte der Staatsrat der DDR, in seiner grenzenlosen Güte, endlich die Ausreise meiner Frau und meiner Kinder zugelassen, und mit uns aufgeregten Vieren hob der Flieger von Schönefeld Richtung Schwechat ab. Und zum 1. Mal war ich es, auf den gewartet wurde.
Dass nicht nur die Reichen flogen, hat mir anno 82 der Leiter des Labors erklärt, in dem ich post doc war. Nach einem kleinen Telefonat konnte ich mir im Reisebüro um die Ecke meine Flugkarte Paris-Wien-Paris abholen, um einen Preis der für die Bahnfahrt nicht gereicht hätte. Diesen und noch einige weitere günstige Flüge während meiner Auslandstätigkeit habe ich ganz besonders genossen.
Dieses Hochgefühl verdankte sich meinem persönlichen Eindruck, in den Genuss einer Leistung zu kommen, von der ich bisher geglaubt hatte, sie würde nur reichen und besonderen Menschen zustehen. Inzwischen hat sich dieser Eindruck restlos verflüchtigt. Mir musste bald klar werden, dass die Möglichkeit zu fliegen mich nicht automatisch  zu einem Mitglied der Reichen und Besonderen gemacht hat.
Heute drängen wir uns alle hin und wieder auf Flughäfen durch die Massen. Im Vergleich mit unseren übrigen Lebenshaltungskosten sind die Beträge, die zu diesem Zweck von unserem Konto abgebucht werden, nahezu irrelevant. Keine bangen Blicke verfolgen mehr das Abheben unserer Maschine, und niemand schließt uns erleichtert in die Arme, wenn wir glücklich gelandet sind.
Siehe auch: Schwechat 1961 (Der Standard, 21. Juli 2014)
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