Bildung für alle?
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Für "Alt-68er" mag es herzerwärmend sein, den Jungen beim AudiMax-Besetzen und spontanem Arbeitsgruppen-Bilden zuzuschauen.
Das Herz zu erwärmen ist zwar wichtig und kommt leider immer wieder zu
kurz, weil der Mensch allzu leicht zum Strukturieren, Organisieren,
Einteilen und Reglementieren neigt. Aber mit Herzerwärmen allein geht's
halt leider auch nicht. |
In
meiner ersten Zeit als "Universitätslehrer" habe ich mir bei meinen
Kollegen nicht nur Freunde gemacht. Damals wurde in Kleingruppen
Grundlagenwissen der Pharmakologie abgeprüft. Im Gegensatz zu meinen
Kollegen habe ich keine Prüfungsfragen gestellt, sondern eine
Telefonnummer bekanntgegeben, unter der die Studenten mich anrufen und
ein Thema vereinbaren konnten. Über dieses Thema mußten sie dann
anläßlich der "Prüfung" in der Gruppe ca. 10 min lang referieren. |
Bei
meinen gestrengen Kollegen entstand damit der Eindruck, ich würde den
Studenten im Vorhinein meine Prüfungsfragen verraten und auf diese
Weise den Sinn der Lehrveranstaltung, nämlich Wissen zu überprüfen,
konterkarieren. Ich fand es allerdings sinnvoller, mit vorbereiteten
Studenten 1-2 h lang den Stoff zu diskutieren. Ein Bild davon, wie gut
sie den Stoff verstanden, konnte ich mir dabei allemal machen. |
Dennoch:
eine kleine Feigheit meinerseits war auch im Spiel. Es widerstrebt mir
bis zum heutigen Tag, einem Prüfling Fragen zu stellen und dann
aufgrund der Antworten über Erfolg oder Mißerfolg einer Prüfung zu
entscheiden. Dieser Vorgang beinhaltet immer die Gefahr, einem Prüfling
den angestrebten Erfolg verwehren zu müssen. Man kann also in die
Lage kommen, einem Menschen etwas Unangenehmes anzutun. |
Die Weitergabe von Wissen kann aber nur dann gelingen,
wenn wir uns auf irgendeine Weise davon überzeugen, daß das Wissen beim
Empfänger angekommen ist. Schimpansen verzichten auf diese
Kontrolle; sie lassen sich von ihrem Nachwuchs kommentarlos imitieren
(Castro & Toro 2004). Vermutlich ist das einer der Gründe, warum
ihre Kultur und Tradition um einiges spärlicher ausfällt als die unsere. |
Über
Jahrtausende haben Menschen gewaltige Mengen an Wissen angehäuft. Auch
wenn das Werk des Mago von Karthago (ca. 235 v. Chr.) heute in keiner
Bibliothek mehr steht,
da es in der Sprache der späteren Verlierer abgefaßt war, hat sich sein
detailliertes Wissen über Ackerbau & Viehzucht in der Fachliteratur
der folgenden Jahrhunderte niedergeschlagen. Wissen wird nicht nur 1:1
weitergegeben, sondern ständig kommentiert, korrigiert und ergänzt. |
Von
der Empfehlung des Mago, Weingärten an Nordhängen anzulegen (in
Nordafrika ein durchaus sinnvoller Rat), mußte in europäischen
Anbaugebieten z.B. abgerückt werden. Wir tun also gut daran, alte
Bücher nicht nur abzuschreiben, sondern uns auch um ein grundlegendes
Verständnis des Gesamtzusammenhangs zu bemühen. Deshalb darf sich Lehre
nie auf Frontalvortrag und abschließende Prüfung beschränken. |
Aber
irgendeine Form der "Qualitätskontrolle" wird es im Bildungssystem
immer geben müssen. Es ist eine Tatsache, daß manche Schüler leichter
und schneller lernen als andere. Nicht alle Menschen sind gleich. Es
gibt soetwas wie Begabungen.
Es ist ein Gebot der Vernunft, die diversen Funktionen in einer
arbeitsteiligen Gesellschaft von Personen ausüben zu lassen, die sich
dafür gut eignen. |
Von
den AudiMax-Besetzern wird "Bildung für alle" verlangt. Es wird
kritisiert, daß statt dessen (A) Bildung nur den Eliten vorbehalten
bleiben soll, und daß (B) nicht Bildung das Ziel sei, sondern
brauchbare Arbeitkräfte. Diese Argumente erinnern mich lebhaft an
Debatten während meiner Studienzeit in den 70er-Jahren.
Immerhin resultierten aus den damaligen Debatten einigermaßen
demokratische Strukturen (Institutskonferenzen, Kurien,
Fakultätskollegien, Kommissionen, ...). |
Die
meisten dieser Errungenschaften wurden inzwischen zu Grabe getragen
oder zahnlos gemacht, gemäß der Devise "Demokratie? Mitbestimmung?
Brauch ma ned". Dadurch wurden zwar Entscheidungsprozesse
"verschlankt", jedoch um einen hohen Preis: Denn inzwischen fühlen sich
nicht nur die Studenten, sondern auch ein immer größerer Anteil der
Universitätsangehörigen bei wesentlichen Entscheidungen übergangen. Die
Folge ist ein sich lamgsam ausbreitendes Unbehagen, das von dem
Verdacht genährt wird, denen "da oben" würde es nur noch um den
Vorteil einer Minderheit gehen, auf Kosten einer unwissend gehaltenen
Mehrheit. |
Forderungen
nach mehr Demokratie und Mitbestimmung im Universitätsbetrieb sind also
nachvollziehbar. Andererseit:
Welchen Sinn soll eine Bildung um der Bildung Willen haben? Und warum
soll eine solche "reine" Bildung allen offenstehen? Warum sollen
möglichst viele dazu ermuntert werden? Wir sind gerade dabei, die
Schulpflicht de facto um ein Jahr früher als bisher beginnen zu lassen.
Schon jetzt ist jeder Heranwachsende dazu verpflichtet, sich vom 6. bis
zum 15. Lebensjahr institutionell mit Wissen füttern zu lassen.
Warum möchten wir diesem Zeitraum für möglichst viele Menschen noch ca.
10 weitere Jahre hinzufügen? |
Wir
sollten das eigentlich nur jener Minderheit zumuten, die
außergewöhnliche Begabung für bestimmte Disziplinen zeigt. So war das
Universitätsstudium früher einmal gedacht. Wir erleben seit Jahrzehnten
eine Art Bildungsinflation. Das hat leider nichts damit zu tun, daß
junge Leute heute um so viel gescheiter wären wie vor 50 oder 100
Jahren. Die Gescheitheit ist die gleiche geblieben. Beim ewigen
Wettstreit um die lukrativsten und einflußreichsten Positionen in der
Gesellschaft versuchen einander die Kombattanten mit immer
aufwändigeren Bildungsnachweisen zu übertrumpfen. |
Die
z.Z. aufbrechenden Konflikte an den Universitäten sind nur eine Folge
der eigentlichen Bildungsmisere an den Schulen. Statt junge Menschen
auf das Leben vorzubereiten, betrachten es die Schulen immer mehr als
ihre Aufgabe, das Bildungsbedürfnis ihrer Klientel zu perpetuieren.
Einmal mehr zeigt sich, was schon Seneca beklagte: Non vitae, sed
scholae discimus (nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen
wir; Seneca 64 n. Chr.). |
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Education / Erziehung
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