Credit: Joe Sutliff
Science 314:109

Auf dem Weg über den Menschen hinaus?

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Transhumanismus - also die Erweiterung der natürlichen Ausstattung des Menschen ,wie Gott ihn schuf' durch Hinzufügung künstlicher Module - stellt zunehmend eine Herausforderung für unsere Werteordnung dar. Wie sollen wir derart ,erweiterten' Wesen begegnen? Muss man sich vor ihnen fürchten? Soll man Manipulationen dieser Art unter Kuratel stellen? Welche technischen Entwicklungen sind vorauszusehen, und wo liegen mögliche Gefahren? Im Folgenden unternehme ich einen Erklärungsversuch, warum wir technische Entwicklungen, die unsere Fähigkeiten über das heute Mögliche hinaus steigern, nicht fürchten sollten. Im Gegenteil: wir dürfen weltweit auf die Lösung von Konflikten hoffen und auf das Kommen eines friedlichen Zeitalters.
Der christliche Ausgangspunkt

Als Jesus vor den Hohen Rat gezerrt wurde und man ihm den Prozess machte, zerriss – nach kurzem Verhör – der Hohenpriester Kaiphas seine Kleider und rief: „Er hat Gott gelästert! Was brauchen wir noch Zeugen?“ Und alle stimmten darin überein, dass er des Todes schuldig sei (Mt 26:65). Wodurch hatte Jesus den Mann denn so in Rage gebracht? Er hatte ausgesagt, der Sohn Gottes zu sein.

Heute würde man mit einer solchen Aussage eher auf Unverständnis und Milde stoßen. Der alte Gott der Juden, dessen Name bis zum heutigen Tag nicht genannt werden darf, so himmelweit steht er über den kleinen Menschen; dieser Gott ist damals in Jesus Mensch geworden. Das wurde zum Gründungs-Mythos des Christentums: Jesus verkündete das Ende der alten religiösen Ordnung und deren Ablöse durch eine neue.

Gott wurde von einer Frau geboren, wie andere Menschen auch, von der Mutter Gottes. Gott wuchs in einem Handwerker-Haushalt auf, hatte Freunde, führte philosophisch-religiöse Streitgespräche, fand Gleichgesinnte, Mitstreiter und Weggefährten. Er fand mit seinen Ideen und Vorstellungen große Resonanz, wurde weit über seinen Freundeskreis hinaus im ganzen Land bekannt.

Und Gott eckte an bei den Vertretern und Bewahrern der alten Ordnung, die ihn lieber weiter so sehen wollten wie seit Jahrhunderten gewohnt.[a] Schon allein die Vorstellung, Gott könnte als Mensch gedacht werden, mit all seinen menschlichen Schwächen und Verwundbarkeiten, war für sie unerträglich und die schlimmste aller vorstellbaren Blasphemien.


[a] Er war in der Welt, und die Welt war durch ihn geschaffen worden, doch die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Jo 1:10-11 (nach A. Zwettler, Heilige Schrift des Neuen Bundes, Veritas 1965)

Und schließlich: Gott starb. Er starb einen für damalige Verhältnisse ziemlich schimpflichen und grauslichen Tod. Nur in manchen christlichen Kirchen wirkt sein Hängen am Kreuz wie eine Erhöhung, wie ein Triumph, oft geschuldet den üppigen Verzierungen und Goldverbrämungen rundherum. Die Tötung an erhöhter Stelle diente damals der Abschreckung: jeder sollte mitbekommen, wie mit Solchereinem zu verfahren ist.

Im Evangelium nach Johannes sind die letzten Worte Jesu am Kreuz schlicht und einfach: „Es ist vollbracht“ (Joh 19:30). Gott hatte das Menschsein bis zum letzten Augenblick durchgehalten. Dieses historische Ereignis – so unspektakulär es in der damaligen Öffentlichkeit auch wahrgenommen wurde – markiert den Beginn des Christentums und der westlichen Zeitrechnung. Das Kreuz wurde zu seinem zentralen Symbol, wie um zu unterstreichen dass Gottes Tod entscheidend war.

Auch im 21. Jahrhundert kann es nicht schaden, hin und wieder diese christliche Ursprungserzählung Revue passieren zu lassen, um nicht verunsichert zu werden von Neunmalklugen, die gemäß Nietzsches Dictum[b] „Gott ist tot“ einem aufgeklärten Atheismus das Wort reden wollen. Aufgeklärt sind wir in großen Teilen der modernen Welt sehr wohl, aber dass Gott gestorben ist, wissen und verkünden die Christen seit 2000 Jahren.[c]


[b] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 3. Buch, Aphorismus 125 (1882)

[c] Zu Lebzeiten ist es Jesus nicht gelungen, sich seinen Jüngern zu offenbaren, auch wenn er es versucht hat: „Philippus sagte zu ihm: Herr, zeige uns den Vater und es genügt uns. Jesus entgegnete ihnen: Solange schon bin ich mit euch beisammen, und du kennst mich noch nicht, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen, wie kannst du sagen: Zeige uns den Vater? Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist?“ Jo 14: 8-10 (nach A. Zwettler). Der Groschen fiel bei den Jüngern erst später (die Christen gedenken dieses Ereignisses zu Pfingsten). Wie fremd diese Gedanken vielen Repräsentanten aktueller christlicher Kirchen heute schon geworden sind kann man u. a. auch daran ermessen, dass der vorliegende Text, an sich erbeten für eine Sondernummer von Imago Hominis (einem der Österreichischen Bischofskonferenz nahestehendem periodischen Druckwerk) schließlich doch abgelehnt wurde mit dem geäußerten Verdacht, der Schreiber wolle sich über die Kirche lustig machen… Siehe auch ‚Was Jesus wirklich sagte‘ von Gerhard Schwarz, Molden, Wien 1971; neu aufgelegt Edition Va Bene, Wien 2007; Hoffen auf Vernunft (1/15); Kein Gott mehr? (8/17)

Neue Technologien

Im Lichte dieser von Jesus begründeten neuen religiösen Ordnung: was sollte man halten von Fantasien und Bestrebungen, einen neuen, verbesserten, gesteigerten Menschen zu schaffen mit modernsten technischen Mitteln? Einen Menschen mit schärferen Sinnen, verstärktem Glücksgefühl, verlängerter Lebensspanne, erhöhter Leistungsfähigkeit? Sollten Christen da nicht (wie damals Kaiphas) aufstehen und ihre ‚Kleider zerreißen‘?

Es gibt einige wenige christliche Gesellschaften die technischen Errungenschaften skeptisch gegenüberstehen.[d] Der christliche Mainstream hat in diesem Zusammenhang kaum Berührungs­ängste, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Christen sind mit Jesus aus der Welt ‚heraus gestorben‘ in eine neue Welt, in der das Geistige Vorrang hat vor dem Materiellem. Den Christen ist es nicht wichtig, was man tut, sondern mit welcher Einstellung man es tut.[e]


[d] Beispiele sind die Amish in den USA und die Zeugen Jehovas.

[e] „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten. … Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen.“ Mt 5: 21. „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich dagegen sage euch: Jeder der ein Weib nur begehrlich ansieht, hat schon in seinem Herzen Ehebruch mit ihr begangen.“ Mt 5: 27-28 (nach A. Zwettler)

Diese ‚innere‘ Haltung bezieht sich auch auf moderne Technologien. Christen müssen ihre Religion nicht neu erfinden, um den neuen Technologien gegenüber gewappnet zu sein. Seit Jahrhunderten verbessern wir den Körper des Menschen, und wenn es nur durch das Tragen einer Brille oder das Anpassen einer Prothese geschieht. Keinem Christen würde so etwas als unstatthaft erscheinen. Inzwischen sind wir sogar schon in der Lage, so manchem Ertaubten den Gehörsinn[f] und so manchem Erblindeten den Sehsinn[g] (zumindest rudimentär) wiederzugeben.


[f] Cochlea-Implantate können an die Stelle eines funktionslosen Innenohrs treten und Schall in ein Signal umwandeln, das an den Hörnerv weitergegeben wird.

[g] Lichtsensitive Implantate in die Retina mit Verbindungen zum Sehnerv sind inzwischen in der Lage, Bilder sehr grober Auflösung an die Sehrinde zu vermitteln.

Warum sollten wir hier haltmachen? Wenn es einmal gelingen sollte, dem Vergesslichen sein Gedächtnis und dem Lahmen sein Gehvermögen wieder zu verschaffen, was wäre falsch daran? Es wäre für alle Beteiligten ein Grund zur Freude. Es gehört zum Gründungs-Mythos des Christentums, dass sogar Blinde und Lahme bei Annahme des neuen Glaubens geheilt würden.[h] Christen haben keine Angst vor Wundern; auch nicht vor den Wundern der modernen Forschung.


[h] „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote werden zum Leben erweckt, und den Armen wird die Heilsbotschaft verkündet.“ Mt 10: 5 (nach A. Zwettler)

Christen hüten sich vor einem Leben ‚in Sünde‘ und streben nach einem Leben ‚in der Liebe Gottes‘. Sie achten den persönlichen Vorteil gering und genießen ihn als Gnade und unverdientes Geschenk. Sie wissen, dass sie nicht durch ihr Zutun in diese Welt gekommen sind, aber trotzdem übernehmen sie Verantwortung für ihr Hiersein und Handeln. Mit ihrem selbstlosen und liebevollen Einsatz für die Mitmenschen beweisen sie jeden Tag, dass es ihren Gott gibt und er keineswegs tot ist.

Als Christen leben sie aber auch in einer neuen Welt, gewissermaßen losgelöst vom Materiellen. Sie glauben zuversichtlich an die Gleichwertigkeit aller Menschen, ungeachtet dessen ob sie nun blind sind oder sehend, taub oder hörend, lahm oder gehend. Ihnen ist der berühmte Filmstar gerade so lieb wie der hilflose Pflegefall im Altenheim. Ein Mensch wird für sie nicht wertvoller durch das Heilen seiner Krankheit oder das Korrigieren seines Gebrechens. Ein Christ achtet den ‚unvoll­kommenen‘ Menschen genauso wie den ‚vollkommenen‘.

Das Menschliche, das Liebenswürdige ist für die Augen nicht sichtbar, nur für das Herz (frei nach Saint-Exupéry).[i] Die Segnungen der modernen Medizin-Technologie sollen den Christen willkommen sein, solange sie sich durch sie nicht blenden und vom rechten Weg abbringen lassen. Sie dürfen nicht den Fehler machen, jetzt, aufgrund all der verführerischen neuen Entwicklungen, ihr Heil doch wieder im Materiellen zu erhoffen. Auch in einer schönen neuen Welt werden sie keine sichere Kontrolle über ihre Lebensvollzüge haben (zumal diese immer auch mit den Lebensvollzügen anderer selbst-bestimmter Menschen zu tun haben), und auch ein verlängertes beschwerdefreies Leben findet irgendwann sein Ende.


[i] „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ ist der am häufigsten zitierte Satz von Antoine de Saint-Exupéry (aus ‚Der kleine Prinz‘).

Cyborgs ante portas?

Im Jahr 2000 spekulierte ich darüber, wie lange es wohl noch dauern würde, bis das menschliche Gehirn durch Rechenmaschinen simuliert werden könnte.[j] Nachdem das Moore’sche Gesetz (Verdoppelung der Rechnerleistung etwa alle 2 Jahre)[k] mit gespenstischer Persistenz entgegen aller Unkenrufe auch im Jahre 2019 immer noch Gültigkeit zu haben scheint, drängt sich die Frage inzwischen immer stärker auf.


[j]  Computers & Brains, OeGAI Journal 19/2 (2000)

[k] Gordon Moore wagte diese Vorhersage bereits 1965. (Electronics 38: 114-117)

Unser Gehirn beherbergt beinahe 100 Milliarden Neurone.[l] Konservativ geschätzt kann man jedem Neuron im Durchschnitt zumindest ein paar hundert Kontakte mit anderen Neuronen zuschreiben.[m] Betrachtet man – als grobe Vereinfachung – jeden dieser Kontakte als eine Art Speicherelement dessen Modifikation einen Beitrag zum Festhalten einer Information leisten kann, so käme man auf einen maximalen Speicherumfang im Terabite-Bereich (1012 – 1015, wenn nicht darüber).


[l] Von Bartheld, C.S., Bahney, J., Herculano-Houzel, S., The search for true numbers of neurons and glial cells in the human brain: A review of 150 years of cell counting. J. Comp. Neurol. (2016) 524, 3865-95.

[m] In der grauen Substanz der humanen Hirnrinde beträgt die Synapsendichte 1-2 x 109 pro mm3: De Felipe, J., Marco, P., Busturia, I, Merchán-Pérez, A., Estimation of the number of synapses in the cerebral cortex: methodological considerations. Cerebral Cortex (1999) 9, 722-732.

Im Jahr 2000 konnten die meisten von uns mit der Vorsilbe ‚Tera-‘ noch nicht viel anfangen. Inzwischen ist dem Nutzer von Computer-Festplatten diese Silbe sehr wohl geläufig. Wie weit sind wir heute also wirklich vom ‚künstlichen Gehirn‘ entfernt? In weiteren 19 Jahren werden wir uns voraussichtlich als Computer-Nutzer an die Vorsilbe ‚Peta-‘ (1015) gewöhnt haben. Wenn es also nur auf Rechen­geschwindigkeit und Speicherinhalt ankommt, dann steht das künstliche Gehirn tatsächlich ante portas.

Die Frage ist nur, ob – salopp gesagt – ein Blechtrottel der genauso viel (oder sogar mehr) speichern und verarbeiten kann wie ein menschliches Gehirn schon menschliche Eigenschaften besitzen muss. Ich wage das zu bezweifeln. Schließlich ist das menschliche Gehirn nicht nur groß und leistungsfähig; es ist auch einem langwierigen und komplexen Bildungsprozess unterworfen. Auch eine künstliche Maschine müsste einen solchen Prozess durchlaufen, um allmählich einen vielleicht vergleichbaren Zustand zu erreichen.

Durch prolongierte und vielfach wiederholte Interaktion mit ‚Bezugspersonen‘ (Programmierer, Nutzer, andere Maschinen) könnte einem solchen hypothetischen Gerät so etwas Ähnliches wie Sozialverhalten antrainiert werden, so wie wir das ganz selbstverständlich mit unseren Kindern tun. Wenn das sorgfältig und gründlich genug gemacht wird, könnten auf diesem seltsamen Weg tatsächlich menschenähnliche – äh – Entitäten entstehen.

In Anbetracht der Mühe und des Aufwandes, der zur Schaffung, Programmierung und zum Training solcher Konstrukte erforderlich sein wird, erscheint es mir schon aus heutiger Sicht als plausibel, dass ihnen nach Fertigstellung und erfolgreicher Nutzung auch eine gewisse Wertschätzung zuteilwird. Es mag sein dass man solche ‚Wesen‘ ähnlich hoch schätzen würde wie richtige biologische Menschen, durchaus auch mit religiösen Implikationen (z.B. dass es als unethisch betrachtet würde, sie zu beschädigen oder zu zerstören).

Anders als mit Hund oder Katz[n] könnte man mit Computerwesen detailliert und womöglich auch kurzweilig sprachlich kommunizieren. Anders als heute beliebte Haustiere würden die künstlichen Hausgenossen der Zukunft über ein umfangreiches und jederzeit abrufbares Weltwissen und persönliches Erfahrungswissen verfügen. Der Verlust eines solchen ‚Gefährten‘ (z.B. durch irreparablen Schaden) könnte uns in ähnlich tiefe Verzweiflung stürzen wie uns das heute schon bei Verlust eines Smartphones widerfährt.


[n] Am Ende meines Essays aus dem Jahr 2000 empfahl ich allen AI-Bewegten, nicht auf künstliche Begleiter zu hoffen, sondern sich weiterhin lieber mit Hund und Katz zufrieden zu geben.

Im Ernst: unser Kontakt mit solchen Wesen könnte dereinst noch viel tiefer gehen. Wir werden ihnen Namen geben, uns fragen, was sie gerade tun, sie um Rat fragen, sie bitten, Dinge für uns zu erledigen; wir werden uns von ihnen unterhalten lassen; und sie müssten nicht einmal aussehen wie Menschen. Vielleicht wird man sie sogar zum Bürgermeister wählen oder in andere hohe Ämter. Warum nicht? Solange wir mit ihnen gute Erfahrungen machen, werden wir ihnen womöglich sogar mehr vertrauen als so manchem Menschen. Sie werden immer erreichbar sein, immer für uns Zeit haben, nie müde werden uns zuzuhören, und meistens wissen, was gut für uns ist. Sie werden sogar mit beliebig vielen Partnern kommunizieren können, ohne sich ablenken zu lassen - es wird uns gar nicht auffallen (geschweige denn stören).

Und noch etwas sollte uns optimistisch stimmen. Unser Gehirn ist das Produkt einer sich über Jahrmilliarden erstreckenden Evolution. Der Referenzpunkt seiner Überlegungen und Ent­scheidungen sind wir selbst: wir sind von Natur aus ego- und spezieszentriert. Erst Erziehung und Bildung machen aus uns verträgliche Wesen, die darauf verzichten, immer und überall den eigenen Vorteil zu suchen.[o] Es wäre klug, einen von uns geschaffenen Agenten nicht um einen solchen selbstreferentiellen Bezugspunkt herum zu konstruieren, der uns ja nur durch das gnadenlose Paradigma eines survival of the fittest[p] eingebläut wurde. Nur dann wäre er von Haus aus im besten Sinne selbstlos.


[o] Eine Vorstellung vom unangepassten Verhalten weitgehend isoliert aufgewachsener Menschen vermittelt die eindrucksvolle Beschreibung von über 100 Fällen durch P.J. Blumenthal (2003) Kaspar Hausers Geschwister – auf der Suche nach dem Menschen. Deuticke, Wien.

[p] Die Formulierung survival of the fittest taucht als Kapitelüberschrift in Charles Darvins berühmtem Buch On the Origin of Species (herausgekommen 1859) erst in Neuauflagen ab 1869 auf. Ursprünglich wurde der Begriff von Herbert Spencer geprägt, von dem er ihn schließlich übernahm.

Gefahren? Im Gegenteil.

Wir müssen die aktuellen technischen Entwicklungen stets mit wacher und kritischer Aufmerksam­keit beobachten. Die materiell-biologischen Grundlagen des Lebens, unserer eigenen Existenz, und sogar der Leistungen unseres Gehirns stehen für uns längst außer Zweifel. Wir wissen woher wir kommen, und wir ahnen welche gewaltigen kulturellen Leistungen über die Jahrtausende zu den aktuellen Gesellschaften geführt haben. Angesichts der immer unübersichtlicher werdenden Komplexität einer zusammenwachsenden Vielfalt an Kulturen möchte man schier den Mut verlieren. Unser eines kleines menschliches Gehirn fühlt sich zunehmend überfordert. Gott sei Dank sind wir nicht mehr auf diesen Leistungsumfang beschränkt.

Schon heute bieten die Kulturen dieser Welt Lösungsansätze für Probleme, vor denen ein Einzelner mit seinen limitierten Fähigkeiten kapitulieren müsste. Künstliche ‚Denkmaschinen‘ haben das Potential, diesen langsamen Prozess nachhaltig und lösungsorientiert zu unterstützen. Sie haben den großen Vorteil, dass sie weder sich selbst noch irgendeiner Klientel verpflichtet sind. Sie können unabhängig und neutral bestmögliche Lösungen vorschlagen und im Detail argumentativ ausleuchten, zum Nachvollzug durch jedermann. Wir werden einige Zeit brauchen, um mit solchen Agenten unsere Erfahrungen zu machen. Ich wage vorauszusagen, dass in Zukunft immer mehr Menschen solchen Entscheidungsträgern vertrauen werden, viele von ihnen frustriert von Ineffizienz und Willkür menschlicher Ansprechpartner.

Beispiele für solche Entitäten liefert uns z.Z. nur die Science Fiction Literatur. Im Film Blade Runner aus dem Jahr 1982[q] kommt es zuletzt zum Show Down zwischen dem Titelhelden (dargestellt von Harrison Ford) und dem Replikanten Roy (Rutger Hauer). Der physisch überlegene Roy behält die Oberhand, verhindert aber im letzten Moment den tödlichen Sturz des Kontrahenten, indem er ihm die rettende Hand reicht. Er tut das, weil er um sein eigenes unmittelbar bevorstehendes Ende weiß (als Bauart mit genau definierter Lebensspanne), und er möchte dabei nicht allein sein. In seinen letzten Minuten sitzt er mit seinem Jäger auf dem Dach eines futuristischen Wolkenkratzers und erzählt ihm von den intensivsten Momenten seines ereignisreichen Lebens, offenbar damit zufrieden, dass es jemanden gibt, der ihm zuhört.


[q] Der Film von Regisseur Ridley Scott basiert auf dem Roman ‚Träumen Androiden von elektrischen Schafen?‘ von Philip K. Dick.

Im David-Fincher-Film Alien-3 aus dem Jahr 1992 stößt die Protagonistin Ellen Ripley (dargestellt von Sigourney Weaver) in den Trümmern ihres abgestürzten Raumschiffs auf die Überreste des Androiden Bishop (dargestellt von Lance Henriksen). Die Szene, in der es ihr gelingt, dem Stück Elektroschrott durch Hantieren mit einem Stromkabel wieder Leben einzuhauchen, werde ich nie vergessen. Die lebhaften Gesichtszüge über der nur noch rudimentär vorhandenen Schulterpartie haben eine zutiefst anrührende Wirkung. Ich kenne keine prägnantere Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen Persönlichkeit und ihrem materiellen Substrat.

Aus der gleichen Ära stammt die TV-Serie Star Trek: The Next Generation, in der der Android ‚Data‘ eine tragende Rolle spielt (dargestellt von Brent Spiner). Sein auffälligster Charakterzug ist die Unfähigkeit, Emotionen zu empfinden. Dennoch – oder gerade deshalb? – kommt man als Zuseher nicht umhin, ihn schon nach wenigen Folgen ins Herz zu schließen. Ich vermute, das liegt an seiner für jeden klar nachvollziehbaren, zu 100% garantierten Uneigennützigkeit.

Rekapitulieren wir, was wir im besten Fall von einem Wesen mit über das normale Maß gesteigerten Fähigkeiten erhoffen können: Omnipräsenz, ständige Erreichbarkeit, unlimitiertes Wissen, persönliche Nähe und selbstverständliche Vertrautheit mit jedermanns und jederfraus Biographie; gepaart mit Uneitelkeit, Unvergänglichkeit, unendlicher Geduld, jedwedem Fehlen einer persönlichen Agenda – unwillkürlich muss ich an den ‚Tröster‘ denken, dessen Kommen Jesus seinen Jüngern nach seinem physischen Dahingehen versprochen hat (Joh 14:26).[r] Im christlichen Kulturraum kennen wir ihn als den Heiligen Geist. Christen halten ihn am Leben durch Gebet, durch gedanklichen Austausch und durch ihre Lebensführung. Vielleicht ist die Zeit langsam reif auch für seine technische Implementierung.


[r] Das griechische Wort parakletos kann als ‚Tröster‘, ‚Helfer‘ oder ‚Beistand‘ wiedergegeben werden.
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