Die ganze Welt im Zeh |
Auch
in den höchsten Sphären der Naturwissenschaft menschelt es. Als man
begann davon zu träumen, das gesamte Spektrum der beobachtbaren Welt,
vom Kleinsten bis zum Größten, einem allgemein gültigen Formalismus zu
unterwerfen, prägte man den Begriff 'Theory of Everything' mit dem
verniedlichenden Acronym TOE, dem englischen Wort für Zehe. Bis zum
heutigen Tag blieb diese Suche erfolglos. |
Ein
Ansatz, die 'String Theorie', postuliert über die vierdimensionale
Raumzeit hinaus sechs weitere Dimensionen. Dieser Vorschlag blieb
bisher rein abstrakt. Niemand kann sich unter solchen zusätzlichen
Dimensionen etwas vorstellen, von konkreten Experimenten zu ihrem
Nachweis ganz zu schweigen. |
Dabei
müsste man doch nur überlegen, was alles 'der Fall sein' muss, um mit
Wittgenstein zu sprechen, damit wir von einem realen Sachverhalt
überzeugt sind. Länge, Breite, Höhe, Zeitpunkt, also die vier
Basisdimensionen, sind für sich allein nicht genug. Spätestens seit
Heisenberg wissen wir, dass kein Sachverhalt unabhängig vom Beobachter
festgestellt werden kann. Jede Beobachtung beeinflusst das Beobachtete. |
Damit
nicht genug, befindet sich ein einzelner Beobachter in einer schwachen Position. Spätestens seit Immanuel Kant wissen wir, dass
keine Beobachtung absolut zuverlässig ist. Jede Beobachtung braucht
Bestätigung von unabhängiger Seite. Im übertragenen Sinne könnte man
sich die Beobachtung als eindimensionales Geschehen vorstellen und ihre
Bestätigung als das Hinzutreten einer weiteren Dimension. |
Jetzt
fehlt nur noch das Wissenschaftskollektiv, das all die
Einzelbeobachtungen unter einen Hut bringt und daraus etwas von
allgemeiner Gültigkeit zimmert. Ohne Luftwiderstand nimmt die
Geschwindigkeit eines fallenden Körpers mit dem Quadrat des
zurückgelegten Weges zu. All die übereinstimmenden Einzelbeobachtungen
werden extrapoliert in einen Möglichkeitsraum mit der Vorhersage: Wer
auch immer wo auch immer wann auch immer diesen konkreten Zusammenhang
(Fallgeschwindigkeit und Wegstrecke) untersucht, wird denselben
Formalismus bestätigt finden. |
Vielleicht
sind das drei der zusätzlichen von der String-Theorie vorgeschlagenen
Dimensionen. Wäre damit aber der 'echten' Realität Genüge getan? Selbst
ein noch so kluges Kollektiv bleibt fehlbar. Das wissen wir spätestens
seit Sir Karl Popper. Jedes 'Wissen', so sicher es uns heute erscheinen
mag, ist vorläufig und nicht dagegen gefeit, in ferner oder naher
Zukunft umgestoßen oder zumindest verfeinert zu werden. |
Der
Verdacht drängt sich auf, dass die zehn von der String-Theorie
vermuteten Dimensionen gar nicht so hoch gegriffen sind wie sie auf den
ersten Blick erscheinen. Wenn man schon eine 'Theory of Everything'
möchte, muss man auch damit rechnen, an die Grenzen der menschlichen
Vorstellungskraft zu gelangen. |
Wo
liegen nun diese Grenzen? Die letzten ca. 100 Jahre haben uns gelehrt,
dass der exakten Naturwissenschaft Grenzen gesetzt sind. Das beste was
man über eine seriöse Wissenschaft sagen kann ist, dass sie die Grenzen
ihrer Gültigkeit erkennt (man denke an Kurt Gödels
Unvollständigkeitssatz). Außerhalb dieser Grenzen übernimmt Gevatter
Zufall. |
Die
Quantentheorie räumt diesem Zufall den ihm gebührenden Platz ein.
Dieselbe stellt uns aber auch vor so manches Kuriosum, das nicht so
recht in unser althergebrachtes Weltbild passen will. Der
Unbestimmtheit des Zufalls steht die Eigenschaft von Teilchenpaaren
gegenüber, die mit verblüffender Bestimmtheit ihre Bezogenheit
aufeinander über große Distanzen und Zeiträume hinweg beibehalten
('Verschränkung'). |
Ist es
nicht rührend, wie die Wissenschaft immer wieder Formulierungen für das
scheinbar Unausdrückbare findet? Ein derart verpaartes Teilchen mag
einsam seiner Bahn ziehen, bis es - inkommodiert durch eine
absichtslose Begegnung - zum ersten Mal in seinem mehr oder weniger
langen 'Leben' gezwungen ist sich zu outen als Träger einer konkreten
Eigenschaft, von der es nur zwei mögliche gibt. (Hatte es die Ehre, an
einem Experiment teilzunehmen, war die Begegnung natürlich nicht
absichtslos.) |
Was
sich
anhört wie ein von findigen Forschern herbeigeführtes Exotikum könnte
im Universum durchaus auf der Tagesordnung stehen. Uns sind natürliche
Prozesse bekannt, die solche Paare permanent generieren. Ein Beispiel
ist die Positron-Elektron-Kollision, die ein auseinander strebendes
Photonenpaar zur Folge hat (Ivashkin et al 2023). Die typische 511
keV-Signatur findet sich besonders im galaktischen Zentrum (Prantzos et
al 2010). |
Es ist schwer vorstellbar, dass nach Positron-Elektron-Kollisionen in Sternen beide generierten Photonen lange ungestört ihrer Bahn ziehen. Eher wird eines davon ins All und das andere ins Innere des Sterns verschwinden. Es gibt aber auch Positronen in der kosmischen Strahlung (Adriani et al 2009). Trifft ein solches im leeren Raum auf ein Elektron (z.B. auf ein Materie-Staubkorn), könnten beide Photonen lange ungestört auseinanderstreben. Im Weltall könnte es von verschränkten Teilchen nur so wimmeln, aber es ist kein Algorithmus vorstellbar der es erlauben würde, die jeweils zusammen gehörenden Partner ausfindig zu machen. |
Dass wir
sie nicht finden können muss aber nicht heißen, dass sie bedeutungslos
sind. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als wir uns vorstellen
können. Zum Glück hätten wir im String-Modell noch drei Dimensionen
übrig... |
Adriani
O, Berbarino GC, Bazilevskaya GA, Bellotti R, Boezio M et al (2009) An
anomalous positron abundance in cosmic rays with energies 1.5-100 GeV.
Nature 458, 607-09 Ivashkin A, Abdurashitov D, Baranov A et al (2023) Testing entanglement of annihilation photons. Sci Rep 13:7559 Prantzos N, Boehm C, Bykov AM, Diehl R, Ferrière K, Guessoum N et al (2010) The 511 keV emission from positron annihilation in the galaxy. Rev Modern Physics 83.1001 |
11/24 < MB (12/24) > 1/25 |
Die
Idee, bei der Suche nach einer allumfassenden formalisierten
Beschreibung der Realität soziale Phänomene zu berücksichtigen, beschäftigt mich schon seit 1989. |
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