René Magritte
La condition humaine
1935

Traktat über die Wirklichkeit

Das Schicksal ist blind?
Es ist eine Erfahrung, wie sie jeder schon gemacht hat: Geschehnisse, die auf geheimnisvolle Weise zueinander in Beziehung stehen, ohne dass es eine Erklärung für solche Zusammenhänge gibt. Zufall. Man wundert sich. Unser unstillbarer Durst nach logischen Erklärungen kann uns zum Äußerten treiben und auf Erklärungssysteme zurückgreifen lassen, die sich jeder Nachprüfbarkeit entziehen. Bei dem Versuch, das Unerklärliche zu erklären muss man zwangsläufig bei solchen Systemen landen; erst sie halten. Alle überprüfbaren Modelle scheitern früher oder später an Widersprüchen.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem allgemeinen Sprachgebrauch: Ein 'schwarzer Tag', oder 'ein Unglück kommt selten allein', ein Tag, an dem man 'mit dem linken Fuß aufgestanden' ist, an dem man 'lieber im Bett geblieben wäre', usw. Eine Häufung unglücklicher Zufälle also. Ereignisse A, B und C haben offenbar nur eines gemeinsam: mich, den Betroffenen. An manchen Tagen zieht man das Unglück richtig an. Umgekehrt gibt es aber auch Tage, an denen man - scheinbar dank glücklicher Zufälle - einen Erfolg nach dem anderen hat. Unwillkürlich entsteht vor unserem leicht zu beeindruckendem geistigen Auge die Vision von positiven und negativen Feldern, die unsere Geschicke lenken, Spielwiesen geheimnisvoller Kräfte, denen wir uns nicht entziehen können. Eine nüchterne Betrachtungsweise könnte eine gewisse positive oder negative Erwartungshaltung verantwortlich machen für die scheinbar unerklärliche Konsequenz des Schicksals, das allerdings nur im Zusammenhang mit vergleichsweise läppischen Zwischenfällen, die man je nach Laune zur Kenntnis nehmen mag oder auch nicht. Wirklich tragische Ereignisse wie z.B. eine Reifenpanne, der Verlust einer Geldbörse, das Versäumen einer Straßenbahn oder ähnliche Katastrophen sind unerbittlich eindeutig.
Charakteristisch für eine Verkettung unglücklicher (oder auch glücklicher) Ereignisse ist die Unwiederholbarkeit der Ereigniskette. Das heißt: Eine Ereignisabfolge A, B, C und D lässt sich niemals durch das bewusste nochmalige Herbeiführen des Ereignisses A vollständig (ja nicht einmal teilweise) wiederholen. Für die etablierte Naturwissenschaft gilt das als ein Beweis dafür, dass zwischen den Ereignissen kein kausaler Zusammenhang besteht. So einfach ist es allerdings nicht, denn warum sollte nicht auch ein Zusammenhang zwischen Ereignissen bestehen, deren Abfolge nicht wiederholt werden kann? Damit stellt sich die Frage nach der Natur der Wirklichkeit schlechthin. Was wissen wir von ihr? In welchem Ausmaß ist es uns möglich, sie zu erkennen, zu beschreiben, zu verändern?
Nur der Dichter kennt die Sprache der Wirklichkeit
Im Bestreben, uns ein Bild von der Wirklichkeit zu machen mit der wir konfrontiert sind, gelangen wir zu Konzepten die ihre Beschreibung ermöglichen. Ganz allgemein gesprochen ist die einzige Bedingung, die ein solches Konzept erfüllen muss, diejenige, brauchbar zu sein, d.h. Beschreibungen zu erlauben, die in größtmöglichem Einklang mit der Wirklichkeit stehen. Das Auffinden eines solchen Einklangs hat im Verlauf der Geschichte vorzugsweise männliche Vertreter des Menschengeschlechts in euphorisches Entzücken versetzt. Genau genommen beschränkten sich aber jene Erkenntnisse, die in unserer heutigen Zeit das höchste Ansehen genießen, auf denkbar banale und langweilige Aspekte unserer Wirklichkeit, wie z.B. Länge, Breite und Höhe eines Objekts, die Geschwindigkeit, mit der es seine Position ändert, oder dessen Gewicht. Für den Fall dass es sich bei der zu beschreibenden Wirklichkeit um einen Stein handelt, der meinetwegen durch die Luft fliegt, mögen die genannten Größen eine Beschreibung erlauben, die der Wirklichkeit in befriedigender Weise entspricht. Wieviel könnte man allerdings mit der Information anfangen, dass meine Tochter Sarah 150 x 30 x 20 cm misst, sich momentan in Ruheposition befindet und 40 kg wiegt? Dabei steht außer Zweifel dass sie für mich einen weitaus bedeutenderen Aspekt der mich umgebenden Wirklichkeit darstellt als beispielsweise der Campingsessel, auf dem sie gerade sitzt. Zugegeben: unser konventionelles Koordinatensystem könnte noch eine Vielzahl weiterer Informationen bereitstellen, bis hin zu einer naturgetreuen holographischen Reproduktion, inklusive eines Sonogramms ihrer Stimme. Aber ist das dann Sarah? Keineswegs. Es ist ein Bild ihrer äußeren Erscheinung, nicht mehr; bestenfalls mit Tonbanduntermalung. Es scheint so, als wäre die sogenannte moderne Naturwissenschaft nicht in der Lage, die für uns persönlich wirklich relevanten Aspekte der Wirklichkeit auch nur einigermaßen wirklichkeitsgetreu zu beschreiben.
Die besten Beschreibungen der Wirklichkeit sind bislang nicht Naturwissenschaftlern gelungen, sondern waren Dichtern und Poeten vorbehalten. Und sie benützten dazu weder Maßband noch Stoppuhr. Eines Dichters Stadtbeschreibung kann uns mehr sagen als der genaueste Stadtplan. Und auch das sorgfältigste moderne medizinische Gutachten kann es nicht im Entferntesten mit einem Liebesgedicht aufnehmen. Es ist zwar richtig, dass auch der genialste Dichter die Wirklichkeit nur unvollkommen wiedergeben kann - auch die süßesten Zeilen lassen die Geliebte nicht zum Leben erstehen - aber er bringt auf jeden Fall ungleich mehr zustande als es die moderne Naturwissenschaft mit Begriffen wie Raum, Zeit und Masse könnte. Welche zusätzlichen Informationen gibt uns ein Dichter?
Die Berührungsängste der Naturwissenschaft
Gefühle, Stimmungen, Ahnungen, Instinkte: das sind Begriffe denen ein moderner Naturwissenschaftler, der von seiner Kollegenschaft ernst genommen sein will, mit großem Argwohn begegnet. Er fürchtet sie wie Tod und Teufel. In seinen Experimenten ersinnt er ausgeklügelte Strategien, um ihren möglichen Einfluss von vornherein auszuschalten, mit zuweilen recht unterschiedlichem Erfolg. Denn die bunte und facettenreiche Welt unseres Seelenlebens lässt sich kaum vollständig kontrollieren; ein armes Menschlein bleibt auch der sich noch so nüchtern und sachlich dünkende Experimentator. Der Mensch ist klug und einfallsreich, und gerade die Besten der Gilde der exakten Naturwissenschaftler zeichnet ein geradezu krankhafter Fanatismus aus, mögliche störende, nicht exakt naturwissenschaftliche Einflüsse auszuschalten. Leider ziehen viele von ihnen (nicht alle!) aus der Tatsache, dass ihre Ergebnisse immer wieder in den Rahmen exakt-naturwissenschaftlichen Denkens fallen, den voreiligen Schluss, dass es außerhalb dieses Rahmens nichts Wirkliches gäbe. Außerhalb liegende, also naturwissenschaftlich nicht beweisbare Vorstellungen, werden von ihnen als Humbug und Hirngespinnst abgetan. Die Wirklichkeit, die sie beschreiben, ist wie das fleischlose Skelett der Wirklichkeit, tot, mechanistisch, so unwirklich wie eine Leiche leblos.
Verborgene Dimensionen
Gerade in den letzten Jahren beginnt sich eine Wende abzuzeichnen, von wenigen als solche erkannt. Die exakte Naturwissenschaft greift nach den Grenzen des Alls und nach den Grenzen der Zeit. Sie beginnt, in den ihr geläufigen Dimensionen von Raum und Zeit zum ersten Mal das Ganze zu erfassen. Und siehe da: es ergeben sich ungeahnte Schwierigkeiten. Schon der recht armselig anmutende Teil des Ganzen, den wir bisher untersucht haben, macht zu seiner Beschreibung und Erklärung Annahmen notwendig, die den bisher für ausreichend gehaltenen Rahmen sprengen. Einige Autoren gehen in ihren Modellen so weit, zusätzlich zu den akzeptierten Raum-Zeit-Koordinaten weitere Koordinaten anzunehmen, deren Natur völlig im Dunkeln liegt. Die ambitioniertesten Hypothesen laufen darauf hinaus, dass zur Deutung aller bisher gemachten naturwissenschaftlichen Beobachtungen die Annahme von nicht weniger als zehn Dimensionen notwendig ist, von denen wir uns nur 4 vorstellen können (genaugenommen nur 3, denn wer kann sich schon wirklich die Zeit als 4. Dimension vorstellen?). Die zusätzlichen Dimensionen stellt man sich praktisch ausdehnungslos vor, was erklären soll, warum sie sich unserer Aufmerksamkeit entziehen. Aber ist es nicht geradezu banal, sie als ausdehnungslos zu bezeichnen? Für den vierdimensional zu denken gewohnten Naturwissenschaftler müssen sie natürlich ausdehnungslos sein, da sie ja sozusagen nicht zu seiner Welt gehören. Aber wenn sie zur konsistenten Beschreibung der Wirklichkeit notwendig sind, müssen sie zu dieser uns umgebenden Wirklichkeit auch beitragen. Was liegt näher als in diesen geheimnisvollen, bislang von der Naturwissenschaft vernachlässigten Dimensionen die Ursache dafür zu vermuten, dass ihre Beschreibungen bisher der Wirklichkeit so plump und unvollkommen entsprachen? Die Versuchung ist groß, der oben erwähnten Dichtkunst die eine oder andere der zusätzlichen Dimensionen zuzusprechen. Ihre dennoch gegebene Realitätsferne würde sich aus dem eklatanten Mangel an den ersten drei Dimensionen erklären; nur unser geistiges Auge blickt in eine Scheinwirklichkeit, die sich allerdings recht leichtfüßig der Zeitkoordinate zu bedienen weiß. Im Kino kommen die Raumkoordinaten dazu, immerhin für unser physisches Auge, im Theater mit noch besserer Wirkung, aber aus dem Vollen schöpft nur das eigentliche Leben - wenn es das tut! Ich frage mich, ob es den Menschen gegeben ist, sich aller Dimensionen zu bedienen, sich ihrer bewusst zu sein, ob das wenigstens möglich wäre und was es bedeuten würde, und wie weit ein Mensch gelangen könnte. Scheinbar bereitet es uns schon große Schwierigkeiten, über die Grunddimensionen hinaus irgendwelche Regeln zu erkennen, Zusammenhänge, Formulierbares. Ob es damit zusammenhängt dass wir damit einen Bereich verlassen, den wir einigermaßen überschauen und kontrollieren können, und zu unserem eigenen Wesenskern vordringen? Liegt es daran, dass dadurch die exakte Naturwissenschaft ihrer vornehmsten Tugend verlustig geht: Unvoreingenommenheit und Objektivität des Beobachters?
Reine Naturwissenschaft gibt es nicht
Spätestens seit Plato ist auch Naturwissenschaftlern klar, dass die Wirklichkeit sich direktem Erkennen entzieht - zumindest den nachdenklicheren von ihnen. Informationen über die Wirklichkeit durchlaufen mehrere Filter ehe sie uns, zu sogenannten Naturgesetzen gebündelt, aus Lehrbüchern entgegenblicken. Zum Ersten sind unsere Sinnesorgane keineswegs vollkommene Informationsdetektoren und können noch dazu mit recht unterschiedlicher Schärfe auf Einzelaspekte gerichtet werden. Zum Zweiten müssen wir über unsere Sinneseindrücke nachdenken. Und wenn wir schließlich zu irgendwelchen Erkenntnissen gelangt sind, so würden sie - außer uns selbst - niemandem bekannt werden, wenn wir nicht versuchten, sie irgendwie auszudrücken, zu formulieren, in Form von Sprache niederzulegen. Alles in allem, ein äußerst komplexes neurophysiologisches und psychosoziales Phänomen mit einer gewissen Eigendynamik. Oft genug (fast immer!) ist der Einfluss einer Entdeckung auf die wissenschaftliche Welt davon abhängig, wer sie gemacht hat. So mancher bedeutende Forscher gelangte erst sehr spät zu Ehre und Ansehen, mitunter auch erst nach seinem Ableben. Denkmäler werden großen Geistern errichtet, die zu Lebzeiten unbekannt, oder auch äußerst umstritten, ja geächtet waren. Auf diese Weise wechselt die Wirklichkeit über die Jahrhunderte hin gleichsam ihr Gewand. Ist aber nun das Bild, das wir heute von ihr zu haben meinen, besser, 'wirklicher' als das vor, sagen wir, 2000 Jahren? Inwieweit lassen sich die Zeugnisse von Weltbildern unterschiedlicher Epochen überhaupt miteinander vergleichen, vor dem Hintergrund kaum nachvollziehbarer geistiger Horizonte? Fragen die uns belehren sollten, dass Wahrheit nie etwas Absolutes ist und immer unentwirrbar verflochten ist mit der jeweils herrschenden kulturellen Atmosphäre.
Nach diesem Exkurs in die platonische Philosophie sollte klar sein, dass auch in scheinbar streng vierdimensionale Erkenntnisse Elemente einfließen müssen, die außerhalb ihres Bezugssystems liegen. Mit anderen Worten: Reine Naturwissenschaft gibt es nicht. Sie ist immer das Produkt von Menschen und ihren sozialen Gefügen.
Wenn Naturwissenschaft fremd geht
Ein schönes Beispiel dafür, wie sich Naturwissenschaft in komplexen Zusammenhängen gleichsam selbst transzendiert, ist die Nomenklatur der Quarks. Schon allein die Wahl des Namens 'quark' gibt zu denken. Das Wort wurde einer recht kryptischen Zeile aus James Joycens 'Finnegans Wake' entnommen ('Three quarks for Muster Mark'). Es stellte sich bald heraus, dass sich die 3 Quarks, die ein Proton oder ein Neutron aufbauen, in einer Eigenschaft voneinander unterscheiden müssen, für die es keinen Namen gab. Die, ach, so sachlichen Naturwissenschaftler verpassten daraufhin den 3 Quarks folgerichtig 3 verschiedene Farben (nicht ohne zu versichern, dass diese Farben mit Farben nichts zu tun haben). Noch vergleichsweise trocken nimmt sich diese Namenswahl aus gegenüber jener Nomenklatur, die sich durchgesetzt hat für Quarks unterschiedlicher Masse. Man glaubt heute an die Existenz von 6 Quarks, die man paarweise drei verschiedenen - man höre und staune – Geschmacksrichtungen zuordnet (nicht ohne zu versichern, dass dieser Geschmack mit Geschmack nicht das Geringste zu tun hat). Damit nicht genug, wurde jedem der 6 Quarks ein eigener Name gegeben. Am Anfang ging's ja noch. Die ersten 3 Quarks wurden mit 'up', 'down' und 'sideways' bezeichnet, vermutlich aufgrund einer Skizze, die den Aufbau eines Protons oder Neutrons aus drei von diesen Dingern darstellen sollte, wobei sich zufällig zwei der Knödel übereinander und eines seitlich befand (hätte das Konzept 4 Quarks erfordert, würden sie wahrscheinlich erstens nicht 'quark' heißen - siehe James Joyce - und zweitens statt 'sideways' die Bezeichnungen 'left' und 'right' erhalten haben). Dann wurde es aber erst richtig lustig. Es stellte sich nämlich heraus, dass das inzwischen nur noch als 's' bezeichnete 'sideways' gewissen Elementarteilchen eine 'seltsame' Eigenschaft verlieh; sie hatten eine Lebensdauer, die viel länger war, als ihre relativ hohen Massen erwarten ließen. Daraufhin verwandelte man den Namen 'sideways' kurzerhand in 'strange'. Dann waren die Naturwissenschaftler nicht mehr zu halten. Schon lange vor seinem tatsächlichen Nachweis (für den 1976 übrigens der Nobelpreis vergeben wurde) wurde dem vierten Quark der Name 'charm' gegeben, ein derart verblüffender Name, dass es gar nicht mehr für nötig gehalten wurde darauf hinzuweisen, dass 'charm' mit 'charm’ nicht das Geringste zu tun hat. Wen wundert's, dass die Wissenschaftswelt revoltierte, als dem 5. und 6. Quark die Bezeichnungen 'bottom' und 'top' zugeordnet wurden? Phantasiebegabte Menschen dachten sich schließlich zu den Buchstaben 'b' und 't' die entschieden logischeren Bezeichnungen 'beauty' und 'truth' aus. Ironie des Schicksals: Obwohl das 'truth'-Quark aus dem zur Zeit akzeptierten Konzept zwingend folgt, hat es sich trotz intensiver Bemühungen der Hochenergie-Physiker bis heute (1989) nicht nachweisen lassen.*
Wie gesagt, die Prozesse, die zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen, haben eine gewisse Eigendynamik.
Das Prinzip der Reproduzierbarkeit
Versuche, auf direktem Weg zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen, die über die uns vertraute vierdimensionale Raumzeit hinausgehen, müssen von vornherein auf eines der vornehmsten Prinzipien wissenschaftlichen Denkens verzichten: auf das Prinzip der Reproduzierbarkeit. Dieses Prinzip bildet einen, wenn nicht den wichtigsten Grundpfeiler herkömmlicher Grundlagenforschung. Es zielt darauf ab, keinerlei unkontrollierbare Einflüsse zuzulassen. Die Unanfechtbarkeit wissenschaftlicher Experimente der simplen Art beruht vor allem darauf, dass ihr Verlauf zu keinem Zeitpunkt die banale Welt vierdimensionaler Rationalität verlässt. Wie ein Schießhund wacht unser Auge über jedem Moment, wie das scharfe Auge eines Detektivs über jedem Schritt eines zu beschattenden verdächtigen Individuums. Arme gemarterte Materie! Man könnte es auch so formulieren: Wer allzu genau hinsieht, wird nie erkennen, was wirklich geschieht. Denn wir vergessen allzu gern, dass es dieses 'was' an sich ja eigentlich nicht wirklich gibt, und dass jede Beobachtung, auch die nüchternste und banalste, zugleich auch etwas aussagt über uns selbst, die Beobachter. Und wir sind nie und nimmer reproduzierbar, keiner von uns, und auch kein Augenblick eines einzelnen Lebens. Das Prinzip der Reproduzierbarkeit entpuppt sich als beengendes Korsett, das uns ein hohles lebloses Gespenst der Wirklichkeit beschert, ohne Inhalt, ohne Saft und Kraft. Immerhin wissen wir - mit einigen Einschränkungen, die in unserer dennoch nicht wegzuleugnenden Menschlichkeit begründet sind - ganz genau, wovon wir als Wissenschaftler reden und womit wir es zu tun haben; unsere Beschreibungen sind zwar nicht besonders wirklich, aber immerhin: sie stimmen. Ob diese Feststellung einen Triumph oder eher einen gewissen Sarkasmus zum Ausdruck bringt, mag jeder selbst beurteilen. Die Frage ist nur: Was wollen wir? Wollen wir alles wissen, oder wollen wir nur das wissen, was unabhängig von uns sicher stimmt?
Ich für meine Person bin eher bereit, die Allgemeingültigkeit des Prinzips der Reproduzierbarkeit zum Teufel zu jagen, wo sie meiner Meinung nach hingehört, und die Frage nach dem Ganzen zu stellen, nach einem Ganzen, das mich mit einschließt. Tut man diesen Schritt, so degeneriert die sogenannte exakte Naturwissenschaft unserer Tage zu einer untergeordneten Teildisziplin einer höheren Wissenschaft, für die sich möglicherweise erst ein Name finden muss. Damit möchte ich, um einem Missverständnis zuvorzukommen, der exakten Naturwissenschaft keineswegs die Existenzberechtigung absprechen, sondern sie nur in ihre Schranken verweisen. Nichts liegt mir ferner als ihre Abwertung und Geringschätzung, zumal sie es mir ermöglicht, mich und meine Kinder zu ernähren. Die Zeichen der Zeit geben mir zu der Hoffnung Anlass, Zeuge der Geburt eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes zu werden, umfassender und befriedigender als das gegenwärtige, mit einer Wirklichkeit zum Gegenstand, die den Vergleich mit der wirklichen lebendigen Wirklichkeit nicht länger scheuen muss. Als ersten Schritt auf diesem Wege schlage ich vor, sich Gedanken zu machen über die mögliche Natur zusätzlicher Dimensionen.
Unbekannte Dimensionen: wirklich unbekannt?
Es ist vorgebracht worden, dass diese postulierten zusätzlichen Dimensionen nur unter extrem hochenergetischen Bedingungen wirksam werden, Bedingungen wie sie zum Anbeginn der Zeiten nur für wenige Augenblicke gegeben waren, unmittelbar folgend auf den sogenannten Urknall. Die ursprünglich volldimensionale Schöpfung wäre demnach gleich nach ihrem Entstehen im Zuge eines Abkühlprozesses (der heute noch im Gange ist) zu Vierdimensionalität gleichsam gefroren. Ich glaube nicht daran. Ein solcher Vorschlag erscheint mir wie ein letzter verzweifelter, lächerlich schwachdimensionaler Vergewaltigungsversuch an einer Wirklichkeit, die in ihrer Erhabenheit über eine so plumpe Dummheit nur mitleidig lächeln kann. Wir sollten uns lieber in aller Bescheidenheit fragen, wie sich die Wirklichkeit uns darbietet, und in aller Kühnheit uns zutrauen, mehr von ihr zu begreifen, ohne uns beständig aus ihr herauszunehmen und uns selbst von ihr gleichsam zu abstrahieren.
Ich bin davon überzeugt, dass sich in der Wirklichkeit Dimensionen verbergen, die direkt mit unserer eigenen Empfindungswelt zu tun haben. Höchstwahrscheinlich ist ein gewisser Formalismus zu ihrer Beschreibung bereits in unserer Sprache enthalten, denn wir Menschen haben ja diese Sprache in ständiger Auseinandersetzung mit der ganzen Wirklichkeit entwickelt. Von den Begriffsnöten der Elementarteilchenphysiker war bereits die Rede. Wer sagt uns aber, dass Begriffe wie Ladung, Spin, 'Farbe' oder gar 'Geschmack' ausschließlich in die Kernphysik gehören? Dass sie dort entdeckt wurden, mag daran liegen, dass nur in diesem äußerst engen Rahmen Experimente reproduzierbar sind, aus denen sie erkannt werden können. Ich bin sicher, dass wir es durchaus gewohnt sind, mehrdimensional zu denken und zu handeln. Und einige Begnadete sind in der Lage, dieses Ganze in nachvollziehbarer Weise zu beschreiben. Wie sie das machen?
Ja, wie? Wir wissen nicht, wie das geschieht. Es gehört zum Wesen eines Kunstwerkes, dass es nicht bewusst und gezielt gleichsam hergestellt oder produziert werden kann. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Schaffen eines Werkes. Auch wenn 'Kunst' von 'können' kommt, hat sie im Wesenskern wenig mit können zu tun. Sie hat meist mit einem gewissen Zustand des Schaffenden zu tun, ist wie das Diktat aus einem geheimnisvollen Urgrund. Der Künstler nimmt sich keineswegs aus seinem Werk heraus, sondern fühlt sich ganz im Gegenteil im Schaffensprozess eins mit seinem Werk. Dieser Vorgang steht somit im krassen Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Arbeitsstil. Literarische Erkenntnisse sind auch niemals technisch anwendbar im Sinne von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie sind einfach 'wirklicher' und haben ganz individuelle, persönlichkeitsorientierte Auswirkungen. Sie können Menschen verändern, Menschen formen.
Volldimensionalität und Vollkommenheit
Noch ein Wort zur Natur von Dimensionen. Die Zehndimensionalität unserer Wirklichkeit wurde konzipiert um das Ganze, das sich zunehmend unserer Beobachtung öffnet, adäquat beschreiben zu können, erfüllt aber auch die Forderung nach einer gewissen Symmetrie. Die Dimensionen stehen zueinander in gleichberechtigter Weise in Beziehung. Jede Dimension ist gleich wichtig, es gibt keine Hierarchie der Dimensionen. Nimmt man nur eine heraus aus dem Ganzen, so verliert das Ganze seinen Sinn. Die Entfernung auch nur einer Raumkoordinate wirkt sich dabei genauso vernichtend aus wie das Weglassen der Zeit oder irgendeiner anderen Koordinate. So würde sich zum Beispiel auch das Weglassen der 9. Dimension vernichtend auswirken und unsere Wirklichkeit zu einer rein theoretischen Vorstellung degenerieren lassen, obwohl wir diese Dimension noch nicht einmal benennen können. Und ich wage zu behaupten, dass der Mensch nie einen Sinn im Leben finden würde ohne die Labsal und die Erquickungen die ihm der weite Bereich der Kunst bietet. Vielleicht rührt daher auch unsere Sehnsucht nach einem höheren allmächtigen Wesen, eine Sehnsucht, deren Erfüllung uns erst den letzten Frieden bringen kann.
Übernatürliche Phänomene
Aus all dem bisher Ausgeführten ergibt sich eine bemerkenswerte Konsequenz. Betrachtet man nämlich die objektivierbare Realität und unser subjektives Empfinden als innig miteinander verwobene Einheit, die die Wirklichkeit erst wirklich macht, also als etwas Untrennbares, in dem keine klare Grenze gezogen werden kann, so wird klar, dass es Wechselwirkungen geben muss, Wechselwirkungen äußerst komplexen Art. Genauer gesagt, sollten sich nicht nur die naturwissenschaftlich objektivierbaren Vorgänge der vierdimensionalen Raumzeit auf unsere Gefühlswelt auswirken, sondern es sollten auch umgekehrt Gefühle materielle Vorgänge beeinflussen können. Emotionale Zustände und Prozesse sollten in der Lage sein, ihre Spur zu hinterlassen in der objektivierbaren Realität. Kein vernünftiger Mensch wird abstreiten, dass genau das tagtäglich geschieht. Wie bereits ausführlich dargelegt, können solche Auswirkungen natürlich nicht im streng wissenschaftlichen Sinn reproduzierbar sein, da es sich ja gewissermaßen um ganzheitliche Vorgänge handelt.
Ein konkretes Beispiel. Ich hatte am Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit das Vergnügen, knappe 2 Jahre lang in einem Labor zu arbeiten, in dem buchstäblich alles gelang. Es wurde von einer geradezu charismatischen Persönlichkeit geleitet, die es meisterhaft verstand, alle Mitarbeiter voll zu motivieren, uns jeden Tag mit neuen Ideen bedrängte, ungeduldig unserer Resultate harrte, und ein extrem hohes Maß an Selbstvertrauen, Kompetenz und Kampfeslust ausstrahlte. Unser Boss verstand es, uns das Gefühl zu geben, ganz vorne an der absolut heißesten Front der naturwissenschaftlichen Forschung zu stehen. Und wir produzierten ein interessantes Ergebnis nach dem anderen; es ist mir bis heute ein Rätsel, warum. Damals meinte ich, das wäre normal. Ich stand, wie gesagt, am Anfang meiner Laufbahn. Später setzte ich die gleichen Arbeiten in einem anderen Labor fort. Ich verwendete die gleichen Techniken, die ich z.T. sogar selbst entwickelt hatte. Aber es war wie verhext. Es ging nichts mehr. Im Gegenteil: Einige der in der stimulierenden Atmosphäre des eben verlassenen Labors erhaltenen (und reproduzierten!) Befunde lösten sich in Nichts auf, ließen sich unter den neuen atmosphärischen Bedingungen einfach nicht reproduzieren. Was war geschehen? Nur unter unendlich großem Aufwand gelang es mir schließlich doch, an die alten Erfolge anzuschließen und sie sogar noch zu übertreffen, aber ich brauchte dazu 3 volle Jahre. Meine Techniken waren inzwischen zu einer geradezu menschenfeindlichen Präzision gereift, aber im Prinzip immer noch die gleichen wie früher. Überflüssig zu erwähnen, dass das Labor, das ich verlassen hatte, bis heute eine ungebrochen Kreativität an den Tag legt.
Ein anderes Beispiel wurde bereits im ersten Kapitel dieses Traktates angeschnitten: Das geheimnisvolle Gesetz der Serie, das manchen angenehmen oder unangenehmen Ereignissen innezuwohnen scheint; als würde das Gefährt, auf dem wir unseren Lebensweg zurücklegen, dann und wann von imaginären Schienen gelenkt werden, deren Schwung nur selten in glücklichen Momenten den Zügeln gehorcht, die wir versuchen ihm anzulegen. Mir mag es manchmal so erscheinen, als könnte man es nur mit großer Weisheit nach und nach erlernen, diese Zügel behutsam und zurückhaltend erfolgreich zum Einsatz zu bringen. Nur allzu oft neigen wir dazu, wütend an ihnen zu zerren und machen damit alles nur noch schlimmer.
Gibt es Wunder?
Die Gefühle und die Umwelt sind in Wahrheit eins. Wir sollten ja nicht in den verhängnisvollen Irrtum verfallen, wir könnten durch gezielte rationale Manipulationen das Ganze nach unseren Wünschen in eine bestimmte Richtung zwingen. Ohne Gefühl geht nichts. Nur wenn wir uns voll und ganz auf ein Abenteuer einlassen, wird sich das Abenteuer auch auf uns einlassen. Ich sage das, um nicht den falschen Eindruck aufkommen zu lassen, angesichts der erkannten Einheit zwischen Innen und Außen könnten wir Wunder wirken. Vor allen Dingen müssen wir zuerst uns selbst annehmen und uns den uns zustehenden Platz in der Wirklichkeit einräumen. Dann allerdings steht 'Wundern' nichts mehr im Wege. Es ist wahr, dass wir im Prinzip alles können; wir können sogar 'Berge versetzen', wie es so schön im Neuen Testament heißt. Ein jeder von uns trägt in sich den Keim zur Allmächtigkeit, einer wohlverstandenen Allmächtigkeit: nicht im reduktionistischen Sinn instrumentell auf Objekte anwendbar, sondern nur unter Mitbeteiligung unseres ganzen Selbst. Es heißt ja auch 'der Glaube kann Berge versetzen'.
So wird z.B. von außergewöhnlichen Menschen berichtet, die durch bloße Konzentrationskraft Gegenstände bewegen, Gläser zerschlagen können. Es sind dies immer Menschen, die nicht nur aufgrund dieser erstaunlichen Fähigkeit Aufsehen erregen, sondern darüber hinaus auch unabhängig davon einen tiefen Eindruck auf ihre Mitmenschen machen. Es ist dies also nicht nur einfach eine Technik, eine Fertigkeit die man erlernen und routinemäßig ausüben könnte. Es eignet sich ja auch nicht jeder Mensch zum Wünschelrutengänger.
Ich spüre schon, dass ich jetzt einen Punkt erreicht habe, an dem naturwissenschaftlich denkende Leser beginnen, unruhig zu werden. Liebe Kollegen, ich kann euch versichern: mir geht es genauso. Aber steigen wir doch einmal herab von unserem hohen Ross. Ihr wolltet mir doch nicht etwa mit dem Prinzip der Reproduzierbarkeit kommen? Das wurde doch schon im 7. Kapitel zu Grabe getragen. Natürlich genügt keine der oben erwähnten 'Übernatürlichkeiten' diesem Prinzip. Wir können also ganz beruhigt sein. Uns als Naturwissenschaftler geht das alles eigentlich nichts an. Aber wir sind schließlich nicht nur Naturwissenschaftler sondern vor allen Dingen einmal Menschen, nicht wahr? Und als Mensch und Naturwissenschaftler müssen wir einsehen, dass es sinnlos ist, vor dem Fakir der sein Seil hinaufklettert mit dem Fotoapparat herumzufummeln. Völlig zwecklos. Wichtig ist nur: Der Kerl klettert da wirklich rauf! Warum wollen wir einem Foto mehr glauben als unseren eigenen Augen? Was ist wirklicher?
Wir müssen endlich einsehen, dass wir mit all unseren Messinstrumenten, Aufzeichnungsgeräten und glasharten logischen Schlüssen immer nur mit der einen unvollständigen Hälfte des Ganzen in der Hand zurückbleiben. Wie dumm wir dabei aussehen! Dumm, weil wir immer noch meinen, das Ganze in Händen zu halten. Das Ganze kann man nie und nimmer in Händen halten! Man kann es nicht einmal berühren. Keiner von uns kann auch nur im Entferntesten daran rühren, solange er sich beständig vor sich selbst fürchtet.
Wer uns zu Narren hält ...
Machen wir einen letzten Versuch, auch den uneinsichtigsten Naturwissenschaftler von der Begrenztheit seiner Konzepte zu überzeugen und bemühen wir als Gleichnis das viel strapazierte Modell einer imaginären zweidimensionalen Welt. Welch haarsträubende Possen könnte doch ein der 3. Dimension mächtiges Wesen den armen zweidimensionalen Bewohnern dieser Welt vorspielen. Es könnte an beliebigen Orten auftauchen und wieder verschwinden, um an einem ganz anderen Ort wieder aufzutauchen. Was für ein Spaß! Die armen Flachweltler müssten bald an Geister glauben. Noch viel schlimmer muss es uns ergehen, wenn wir in einer zehndimensionalen Welt nur 4 Dimensionen akzeptieren wollen. Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir dennoch einigermaßen zurecht kommen. Es kann eigentlich nur daran liegen, dass es niemand absichtlich darauf anlegt, uns zu Narren zu halten.
Andererseits: Wer, so frage ich euch, kommt in dieser so erstaunlichen Welt schon einigermaßen zurecht? Dazu gehört wohl ein bisschen mehr als die Fähigkeit, sich in Raum und Zeit zu bewegen.
Die Freude am Schaffen
Was kann uns wirklich glücklich und zufrieden machen? Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es ganz schön glücklich machen kann, an irgend etwas intensiv zu arbeiten, z.B. eine konzentrierte handwerkliche Tätigkeit, eine Arbeit die vor unseren Augen etwas entstehen lässt, das zunächst nur in unserer Vorstellung existiert hat. Künstlerisches Schaffen muss mit ähnlichen Gefühlen einhergehen. Ist man fertig, und ist das Werk gelungen, so geschieht mitunter etwas Merkwürdiges, zumindest mir ist es schon oft so ergangen. Zunächst freut man sich einfach nur, betrachtet sein Werk von allen Seiten, ja bei mir kann dann sogar offene Heiterkeit ausbrechen; es ist einfach lustig, man ist fast versucht, sich auf die Schenkel zu schlagen, während man sein Ding immer wieder umschleicht und umlauert, es hin und her wendet, es kaum glauben kann. Ich glaube, der eigentliche Quell dieser Fröhlichkeit ist das Erstaunen darüber, dass wir es geschafft haben, einer Idee Gestalt zu geben, und dass diese Gestalt der Idee wirklich entspricht. Es wird mir wohl jeder zugeben, dass solche Gefühle für uns eine ganz große Bedeutung haben. Im Grunde entscheiden sie z.B. auch darüber, ob wir mit unserem Beruf zufrieden sind oder nicht. Es handelt sich also um einen ganz zentralen Aspekt unserer Wirklichkeit, mit der wir konfrontiert sind. Er entscheidet mit darüber, ob ein Mensch mit dem Leben, das er führt, einverstanden ist oder nicht. Was kann es Wichtigeres geben?
Nun, es muss wohl noch etwas Wichtigeres geben, denn auch die größte Freude über ein Werk lässt bald nach. Es ist mir schon oft passiert, dass ich nach erfolgreicher Vollendung einer Arbeit statt Freude eine Leere und tiefe Traurigkeit empfand. Es stimmt schon: Man kann eine erstaunlich lange Zeit mit erstaunlich einförmiger Arbeit zubringen ohne zu murren, ja man kann es lieben. Aber das entschieden größere Abenteuer als der Umgang mit Dingen und mit sich selbst ist der Umgang mit anderen Menschen. Wohl mag so mancher darin scheitern und sich auf den Umgang mit Dingen zurückziehen, ohne dabei aber wirklich glücklich sein zu können. Die Wirklichkeit sehnt sich danach, ihre Volldimensionalität zum Ausdruck zu bringen. Unsere Gedanken in die Tat umzusetzen ist bereits ein Vorgang mit überdimensionalem Charakter, ein schönes Beispiel für eine Wechselwirkung zwischen Innen und Außen. Aber um die Ganzheit vollkommen zu machen, braucht es mehr. Es bedarf eines menschlichen Gegenübers. Erst dann beginnen wir, mit der ganzen Wirklichkeit umzugehen. Das ist faszinierend und gefährlich zugleich, denn erst dann können wir auch wirklich verlieren.
Die Sehnsucht des Menschen nach dem Menschen
Von vielen Künstlern wird erzählt, dass sie unter schweren Depressionen gelitten haben; möglicherweise deshalb, weil aus ihren Werken eine Ganzheit zu ihnen sprach, der sie im Schaffensprozess zwar nahe sein konnten, derer sie aber am Ende immer wieder verlustig gehen mussten. Der Versuch, sich diesem sich immer aufs Neue wiederholenden Verlust zu entziehen, mag eine Hauptquelle künstlerischer Kreativität sein.
Es ist schon etwa 15 Jahre her; ich stand mitten im (mitunter recht frustrierenden) Studium, saß in meinem Zimmer und grübelte, schrieb in mein Tagebuch, tüftelte an irgendwelchen realitätsfernen Traumwelten, bis ich mir endlich sagte 'was soll's', den Bleistift weglegte und zum Telefon griff. Ich war in meinen Grübeleien an einem Punkt angekommen, wo mir klar wurde, dass eigentlich alles sinnlos war, wenn es nicht ganz handfest und konkret um Menschen ging, eine Erkenntnis durch die sich meine Grübeleien praktisch selbst ad absurdum geführt hatten. Wenn du schon Gedanken hast, so sagte ich mir, so besprich sie mit Menschen, rede darüber, mach etwas Wirkliches damit. Es wurde noch ein angenehmer Abend mit Freunden. Zwar redeten wir nicht halb so viel, aber ich glaube mich zu erinnern, dass wir gut gegessen haben.
Die Kreativität überwindet die Kluft zwischen unserem Innenleben und der uns umgebenden Realität. Und die Kommunikation überwindet die Kluft zwischen den Menschen. Man kann darin Elemente einer gewissen Mehrdimensionalität erkennen. In freier Analogie zu den Koordinaten des Raumes mag man sich einen Menschen als eine Gerade vorstellen. Beginnt er über seine Umwelt und sich selbst nachzudenken, so entdeckt er sozusagen seine zweite Dimension. Und gelingt es zwei Menschen, einander zu verstehen, so machen sie, zumindest für eine begrenzte Zeit, Bekanntschaft mit einem gewissermaßen dreidimensionalen Selbstverständnis. Diesem Vorgang, der einen anderen Menschen vom Objekt quasi zum Mit-Subjekt verwandelt, hat unsere Sprache bereits seit Langem einen Namen gegeben. Den Namen Liebe.
Und so frage ich euch zu guter Letzt: womit hat die Wirklichkeit wohl mehr zu tun: Mit Raum und Zeit? Mit den Quarks? Mit unserer Erkenntnis? Mit Kreativität? Oder mit Liebe?
Wenn ihr gut aufgepasst habt, wird die Antwort heißen: Mit alldem, und mit noch ein bisschen mehr ...
Die Unverzichtbarkeit der Teile
Ist die Wirklichkeit wie ein großer Eintopf mit 10 verschiedenen Bestandteilen? Nein, denn würde man vom Eintopf einen Bestandteil weglassen, so wäre er höchstwahrscheinlich immer noch ein ganz akzeptables Gericht (wenn man nicht ausgerechnet das Salz vergäße...). Oder ist die Wirklichkeit vergleichbar mit einer Fußballmannschaft? Nein, denn auch mit nur 9 Feldspielern kann das Spiel noch recht gut fortgesetzt werden. Die Wirklichkeit ist auch nicht wie ein Buch mit 10 Kapiteln, denn nimmt man ein Kapitel hinweg, so können die übrigen 9 immer noch gelesen werden (; eher schon wie ein Buch mit 7 Siegeln, denn es müssen alle gebrochen werden, um es aufschlagen zu können). Die Wirklichkeit ist eher wie ein Radio mit 10 Transistoren: nimmt man nur einen heraus, funktioniert er nicht mehr. Oder wie eine Hängebrücke über einen Fluss; nimmt man nur ein Stück heraus, fällt sie herab, und wir können nicht mehr hinüber gelangen. Die Wirklichkeit ist auch wie ein Weinfass: nimmt man nur eine Fassdaube heraus, kann das Fass den Wein nicht mehr halten, und der Wein geht verloren. Genauso wird auch die Wirklichkeit in Unwirklichkeit verwandelt, beraubt man sie auch nur einer ihrer Dimensionen.
Wir kennen solche Unwirklichkeiten aus der Geometrie. Eine Gerade und eine Ebene sind rein abstrakte Begriffe. Die Versuchung ist zwar groß, sich unter einer Gerade einen schmalen, hauchdünnen Graphitfilm auf einem Blatt Papier vorzustellen, aber es gehört kein außerordentlicher Scharfsinn dazu einzusehen, dass eine echte Gerade weder Breite noch Höhe haben darf und somit für uns eigentlich nicht wahrnehmbar ist. Es handelt sich bei einer Gerade mehr um eine Art Information über die Wirklichkeit als um ein Stück von ihr; eine einzige erste Information, die uns natürlich noch herzlich wenig sagt. Wir können nun Stück für Stück versuchen, elementare Informationen über die Wirklichkeit zusammenzutragen. Es ist, als wollte man versuchen, 10 Bleistifte im Kreis gegeneinander schräg hochzustellen. Nur mit einigem Geschick wird es gelingen, eine standfähige Pyramide zuwege zu bringen. Erst wenn man alle erforderlichen Informationen beisammen hat, entsteht zum ersten Mal etwas, das über ein rein theoretisches Konzept hinausgeht, entsteht zum ersten Mal etwas Wirkliches. Mit anderen Worten: Es gibt keine Wirklichkeit ohne unsere Wahrnehmung, ohne unser Nachdenken über diese Wahrnehmung, es gibt keine Wirklichkeit ohne Kommunikation und - vielleicht die erstaunlichste Folgerung - es gibt auch keine Wirklichkeit, wenn es keine Liebe gibt. Ohne Liebe sind wir nichts weiter als rein theoretische Konzepte, nicht existent, wandelnden Toten gleich.
Über Zirkelschlüsse und hohle Phrasen
Unendlich groß ist unsere Sehnsucht, ist unser Durst nach Wirklichkeit. Wir suchen einen Sinn im Leben, auch wenn es uns nicht so recht gelingen mag auszudrücken, was wir damit meinen. Andererseits wird gerade in unserer Zeit immer häufiger von Entfremdung gesprochen, wenn sich auch nicht so einfach wiedergeben lässt, was damit gemeint ist. Wir scheinen überhaupt eine Schwäche für vage Begriffe zu haben, die jedermann spontan verständlich sind, ohne im mindesten klar zu sein. Wir scheinen von selbst zu wissen, was richtig und was falsch ist und sprechen von 'gut' und 'böse'; es besteht kein Erklärungsbedarf. Woher wissen wir das? Wiederholen wir nur das, was uns von klein auf immer wieder eingeschärft wurde? Ich glaube nicht, denn immerhin gibt es, was die Auffassung von gut und böse betrifft, zahlreiche Parallelen zwischen Kulturen, die keinen Kontakt miteinander hatten. Wir scheinen gewissermaßen einen 'sechsten Sinn' dafür zu haben. Im allgemeinen streben wir danach, gut zu sein und uns solcherart in Einklang zu bringen mit einem Gesetz, das wir nie schreiben mussten. Natürlich haben wir jede Menge von Gesetzen aufgeschrieben, aber immer vor dem Hintergrund eines unausgesprochenen Urgesetzes, das sich quasi von selbst versteht. Kant hat gesagt: 'Zwei Dinge setzen mich in Erstaunen: Der gestirnte Himmel über uns, und das moralische Gesetz in uns.'
Es sei mir dazu eine provokante Anmerkung erlaubt. Wissen wir, warum sich der Raum unserer Erkenntnis so darbietet wie er es tut? Können wir darüber anders reden als in hilflosen Zirkelschlüssen? Der Raum ist - nun ja, wie eben der Raum ist. Eine Entfernung ist eben von da bis da, und eine Ebene - tja, ich glaube, wir lassen das lieber, es ist sinnlos. Wir wissen es einfach. So ist das mit Dimensionen, und vielleicht auch mit 'gut' und 'böse'. Und was heißt hier überhaupt 'Dimensionen'? Ein unglückliches Wort, das übersetzt etwa so viel wie 'Abmessungen' bedeutet. Das erklärt auch nichts. Ehe man sich's versieht, ist man wieder genau dort angelangt: Wir greifen in dem scheinbar so reich bestückten Fundus unserer Sprache ins Leere, sobald wir versuchen, Einzelaspekte unserer Wirklichkeit hieb- und stichfest einzugrenzen und wiederzugeben. Nur ein Dichter bringt es fertig, von der Wirklichkeit anders als in hohlen Phrasen zu sprechen. Alles andere ist Schnickschnack, langweilig, fad. Es ist auch fad, von 'gut' und 'böse' zu sprechen, solange es um nichts geht. Will man wirklich etwas zum Ausdruck bringen, so muss man schon eine ganze Geschichte erzählen, sei sie jetzt ausgedacht oder wahr, passieren muss etwas, also Raum und Zeit, Körper die sich darin bewegen, Menschen die fühlen und handeln, Gute und Böse, die ganze Zauberei; und schon wird's interessant (- wenn es gut gemacht ist).
Von der Unwirklichkeit zur Wirklichkeit
Noch ein paar Worte zur grundlegenden Natur von Dimensionen, und zwar wollen wir zum Ausgangspunkt für unsere Betrachtungen wieder jene Dimensionen wählen, die wir uns noch am ehesten vorstellen können, und danach den Versuch einer Verallgemeinerung machen. Obwohl wir meinen, uns die ersten drei Dimensionen vorstellen zu können, möchte ich euch im Folgenden vor Augen führen, dass wir dabei einem folgenschweren Irrtum verfallen. Wir wissen zwar, dass zur Beschreibung einer Ebene zwei Dimensionen erforderlich sind, doch welche dieser Dimensionen ist nun die erste und welche die zweite? Wir wissen es nicht. Wir wissen im Grunde auch nicht, was die dritte Dimension ist; wir stellen uns darunter nur irgend etwas 'Räumliches' vor, aber in Wirklichkeit können wir vom Raum nur sagen, dass zu seiner Beschreibung drei Dimensionen erforderlich sind. In anderen Worten: Die ersten drei Dimensionen werden von uns als gegeneinander austauschbar empfunden.
Gehen wir über diese drei von uns als Grunddimensionen erlebten Angaben zur Wirklichkeit hinaus, so streikt zunächst einmal unser Vorstellungsvermögen; als ob wir in der Wirklichkeit nicht mehr erkennen könnten als bloß den Raum, in dem sie sich abspielt. Wer kam überhaupt auf die verrückte Idee, unter Zuhilfenahme der Zeit unser Szenarium um eine Dimension zu bereichern? Richtig, ich denke es war ein gewisser Einstein. Immerhin wird jeder zugeben müssen, dass ein Raum, in dem nichts geschieht, ein recht armseliges Abbild der Wirklichkeit wäre. Erst die Hinzunahme des Begriffes 'Zeit' schafft den Rahmen, der Ereignisse möglich macht. Ich behaupte aber, dass die vierte Dimension den Namen 'Zeit' genausowenig verdient wie die dritte Dimension den Namen 'Raum'. Das einzige, das sich sagen lässt, ist, dass der Ablauf von Ereignissen in der Wirklichkeit die Existenz von mindestens vier Dimensionen voraussetzt. Das Hinzutreten der vierten Dimension verleiht dem Raum sozusagen 'Zeitfähigkeit'; das bedeutet allerdings nicht, dass diese vierte Dimension die Zeit ist. Genausogut könnte diese Zeitfähigkeit irgendeiner der übrigen Dimensionen zugeschrieben werden. Das heißt, die erste, die zweite und die dritte Dimension haben nicht mehr und nicht weniger mit der Zeit zu tun als die vierte Dimension. Und eine vierdimensionale Raumzeit verliert ihre Zeitfähigkeit, auch wenn wir ihr nur zum Beispiel die zweite Dimension nehmen. Die vierte Dimension kann nichts dafür, dass wir sie in Sekunden (statt ebenfalls in Metern) messen müssen. Das hat nur einen einzigen Grund: Wir können uns in ihr nicht frei bewegen. Das liegt an uns, nicht an der Zeit. Vielleicht wäre es für unsere Vorstellung einfacher, in einem zehndimensionalen Konzept der Wirklichkeit die Zeit erst zuletzt als 'endgültig wirklichkeitsgebend', gleichsam als Schlussstein miteinzubeziehen.
So ähnlich wie die Hinzunahme einer zusätzlichen Dimension zu den drei grundlegenden Raumkoordinaten das Szenarium mit Zeitfähigkeit ausstattet, so ähnlich muss man sich die Auswirkungen der Hinzunahme weiterer Dimensionen vorstellen. Auf diese Weise fließen in unsere Versuche, die Wirklichkeit zu beschreiben, sukzessive neue Elemente ein, die unsere Beschreibungen immer wirklichkeitsähnlicher machen. Stufen zunehmender Komplexität könnten beispielsweise sein (und das sei vorläufig nur einmal so leicht dahingesprochen, nur um eine Ahnung davon zu geben, worauf ein volldimensionales Konzept hinauslaufen könnte): (1) das Erkennen der Wirklichkeit; (2) das aktive Umgehen mit ihr; (3) die Erkenntnis, dass wir nicht allein sind; (4) der Umgang mit anderen Menschen; und schließlich (5) die unsere Grenzen überschreitende Liebe. Mag sein, dass diese Stufen den Prozess einer sich entfaltenden Wirklichkeit einigermaßen zutreffend nachzeichnen. Sind alle Dimensionen einer Wirklichkeitsdarstellung frei (das heißt: losgelassen, eingeschaltet, auf 'ON'), so hört die Darstellung auf, eine solche zu sein, und wird selbst zur Wirklichkeit. Ein Kriminalstück mit scharfer Munition ist kein Stück mehr, sondern wirklich kriminell. Als Stück war es gewissermaßen nicht volldimensional. Der Umgang von Menschen miteinander wurde uns nur zum Schein vorgespielt. Aber wenn wirklich einer erschossen wird, was dann?
Zeit und Ewigkeit
Die zuletzt vorgeschlagenen Stufen der Wirklichkeitswerdung zeichnen sich dadurch aus, dass in zunehmendem Maße etwas entsteht, das sich unserer direkten gezielten Einflussnahme entzieht. Es liegt auf der Hand, dass mit Menschen ungleich schwieriger umzugehen ist als mit Dingen. Und wenn man es dabei auch noch zu einiger Kunstfertigkeit bringen kann, so kann man es doch keineswegs gezielt und geplant darauf anlegen, sich zu verlieben. Es passiert einfach, ob wir es wollen oder nicht. Und der höchste Grad an Unfreiwilligkeit liegt in der Art und Weise, wie wir das Vergehen der Zeit erleben.
Wir sind damit an die Wurzel eines Problems gelangt, mit dem wir Menschen schon immer zu kämpfen hatten. Wir wehren uns dagegen, Prozessen ausgeliefert zu sein, die wir nicht beeinflussen können. Warum eigentlich? Auch das scheint so eine unerklärliche Marotte von uns zu sein, die sich von selbst versteht. Es wäre sehr wohl möglich, uns vor dem scheinbar sinnlosen Walten des Geschickes auf sicheren Boden zu retten. Wir müssten nur in unserem Leben der Wirklichkeit in all ihren Aspekten gerecht werden. Nur so haben wir die Chance, uns auch selbst zu verwirklichen. Wir müssen lernen, 'zehndimensional’ zu leben, erst dann werden wir wirklich leben. Das Neue Testament gebraucht dafür den Ausdruck 'Wiedergeburt'.
Schon Nikodemus war über diese Formulierung äußerst verwundert: 'Wie kann ein Mensch, der bereits ein Greis ist, geboren werden? Kann er etwa ein zweites Mal in den Mutterschoß eingehen und geboren werden?' Ob er mit der Erklärung Jesu 'ihr müsst von oben her geboren werden' etwas anfangen konnte? Zunächst wahrscheinlich noch nicht. Es ist ja auch mit Worten schwer zu erklären. Jesus hat sein Leben dafür eingesetzt. Das Bemerkenswerte an dieser neutestamentlichen Wiedergeburt ist, dass das nun neue Leben, in das sie überleitet, als ein ewiges bezeichnet wird, also gewissermaßen den Schlussstein zum Gebäude der Wirklichkeit miteinschließt. Und wie mit zahllosen Zitaten aus dem Neuen Testament zu belegen ist, ist der Weg, der dorthin führt, die Liebe. Wer das Leben als ein im Grunde sinnloses Unternehmen betrachtet, unausweichlich seiner Auslöschung, dem Tod, zustrebend, mag nur eine etwas unvollständige Vorstellung von der Wirklichkeit haben. Die 'Frohe Botschaft' sagt eigentlich nichts anderes aus, als dass wir im Grund alle 'wirklichkeitsfähig' sind, wir müssen es nur ernsthaft versuchen. Unsere 'Sünde' besteht darin, dass wir einer Wirklichkeit mit zu wenig Dimensionen Zeitfähigkeit unterstellen. Nur ein Herz, das lieben kann, wird von der Zeit nicht vernichtet, sondern zur Vollendung geführt.
Die Überwindung des modernen Weltbildes
Es besteht ein berechtigter Grund zu der Befürchtung, dass die Verwissenschaftlichung unseres Weltbildes in dieser unserer Zeit für uns Menschen keinen Fortschritt, sondern im Grunde sogar einen Rückschritt bedeutet. Der uneingeschränkte Glaube daran, dass nur reproduzierbare Beobachtungen Aufschluss über die Wirklichkeit geben können, schafft ein Wertesystem, das unser Dasein jeglichen Sinnes beraubt. Die sogenannte industrielle Revolution wird es vielleicht eines Tages dahin bringen, dass wir tatenlos unserem Tod entgegendämmern können. Wenn man unser Leben auf Wägbares und Messbares reduziert, bleibt nicht viel übrig. Eigentlich muss man froh sein über den Imageverlust der Naturwissenschaften, der sich abzuzeichnen beginnt. Dem wäre nur entgegenzuwirken durch eine maßvolle und realistische Selbstbescheidung der Naturwissenschaft und durch ihren Verzicht auf das Monopol einer allein seligmachenden Doktrin.
Ein gutes Beispiel für dieses Spannungsverhältnis ist die aktuelle Position der modernen Medizin. Während die etablierte Schulmedizin sich in immer größerem Ausmaß der exakten Naturwissenschaften bedient, wird ihr auch in wachsendem Ausmaß Misstrauen entgegengebracht. Immer mehr Kranke suchen Rat und Heilung außerhalb der Schulmedizin. Dem gesunden Hausverstand scheint man nicht einreden zu können, dass nur beweisbare und erklärbare Mechanismen unsere Gesundheit steuern. Es liegt in der Natur des Konflikts, dass Diskussionen zwischen Gegnern und Befürwortern einer rein naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht sonderlich fruchtbar verlaufen. Man redet aneinander vorbei, die Argumente bewegen sich meist auf unterschiedlichen Ebenen. Ein gegenseitiges Verständnis in dieser an sich ausweglosen Situation scheint mir nicht in Sicht zu sein. Beide Seiten weigern sich hartnäckig, sich der Sprache der anderen zu bedienen. Und wenn sie es doch versuchen, bedienen sie sich ihrer in so dilettantischer Art und Weise, dass sie Hohn und Spott der jeweils anderen Seite auf sich ziehen. Immerhin gibt es einige wenige, die den Blick für das Ganze nicht verlernt haben, aber sie haben einen schweren Stand.
Ähnliche Konfliktsituationen gibt es auch in vielen anderen Lebensbereichen, in der Wirtschaft, im Schulwesen, Verkehrswesen, und nicht zuletzt in der Naturwissenschaft selbst. Das Aufkeimen solcher Konflikte gibt immerhin zu der Hoffnung Anlass, dass wir bereits auf dem besten Weg sind, die naturwissenschaftlich dominierte Epoche unserer Geschichte zu überwinden zugunsten eines Weltbildes, das der Wirklichkeit besser gerecht wird.
Wer Ohren hat zu hören, der höre
Vielleicht ist jetzt die eine oder andere unter euch neugierig geworden und erwartet von den noch folgenden Blättern so etwas ähnliches wie eine Art 'Weltformel' oder zumindest die Andeutung eines Formalismus für den Umgang mit ganzheitlichen Phänomenen. Wenn ich auch gestehen muss, in bestimmten Phasen der Niederschrift dieses Traktates selbst mit einer solchen Möglichkeit geliebäugelt zu haben, so muss ich euch doch enttäuschen, und zwar nicht nur deshalb, weil mir dazu das mathematische Rüstzeug fehlt (ich bin schließlich kein theoretischer Physiker), sondern weil ich nach all den angestellten Überlegungen zu der Überzeugung gelangt bin, dass es einen solchen Formalismus im uns vertrauten Sinn nicht geben kann. Zu ganzheitlichen Phänomenen gehört immer auch das eigene Handeln, die Kommunikation zwischen Menschen, und noch mehr als das. In diesem Zusammenhang kann man es eigentlich nur mit Wittgenstein halten: Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen. Wenn es aber schon nicht möglich ist, einer zehndimensionalen Wirklichkeit wie sie mir vorschwebt mit mathematischem Rüstzeug zuleibe zu rücken, so meine ich doch, dass - wenn auch auf indirektem Weg - über diese Wirklichkeit sehr wohl zu reden möglich ist. Wir müssen nicht - und könnten auch gar nicht - 'von ihr schweigen'. Etwas in uns drängt uns, sie zu erfassen und Worte zu ihrer Beschreibung zu finden. Unsere Sprache ist reich an Begriffen, und scheinbar banale Bilder, Geschichten, Gleichnisse können für scharfe Ohren durchaus Aussagen vermitteln, die über deren vordergründigen Inhalt weit hinausgehen. Der Dichter lauscht in ganzer Hingabe geheimnisvollen Botschaften, die sich abwechselnd vor ihm öffnen und wieder verschließen, und setzt sie um in eine Sprache, deren Aussagekraft er in ständiger Auseinandersetzung mit den Quellen seiner Intuition überprüft. Der Leser versteht nicht selten 'Bahnhof' (zumindest mir geht es oft so, der ich offenbar besonders begriffsstützig bin), aber manchmal spürt man durch das Vordergründige hindurch den unaussprechlichen Hintergrund. Jeder mag selbst auf die Suche gehen nach 'seinem' Autor. Und was für den Dichter gilt, gilt auch für den Maler und in ganz besonderem Sinn für den Musiker, dessen Medium vielleicht die stärkste Zauberkraft besitzt.
Auch das Neue Testament mag man getrost als das Werk großer Dichter betrachten. Ich möchte das keineswegs als ein Abwertung verstanden wissen, im Gegenteil. Die Authentizität und Kraft des Neuen Testaments beruht nicht auf einer möglichst korrekten Berichterstattung über lang zurückliegende Ereignisse in Palästina. Sie geht auf die Gabe ihrer Autoren zurück, jene Ereignisse und Aussagen festzuhalten, durch die ihnen der Nazarener Jesus zu einer tiefen und ihr ganzes Weltbild von Grund auf verändernden Einsicht verholfen hat, zum Nachvollzug durch den aufmerksamen Leser.
MLB (1989)          > 11/98
* Das top-Quark wurde schließlich 1995 nachgewiesen, siehe Kommentare in Science 267, 1423 (A. Regalado: With quark discovery, truth comes out on top - twice) und in Nature 374, 113 (J. Maddox: The top quark found at long last)