pixer.ch

Morbus Alzheimer:
Eine Folge allzu häufig abgebrochener Lernprozesse?

Im Grunde genommen sind wir Menschen ja recht einfach gebaut. Wir haben Wünsche und Bedürfnisse, und wir unternehmen das, was getan werden muss, um uns unsere Wünsche zu erfüllen und um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Die Welt, in der wir leben, die ist kompliziert. Es ist nämlich gar nicht so leicht herauszufinden, auf welche Weise man als Mensch sich seine Wünsche erfüllen und seine Bedürfnisse befriedigen kann. Wir leben schließlich nicht im Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen und wo sich der fantasievolle Mensch noch so manches andere vorstellen könnte (wer mag schon Tauben...).
Am Anfang war das Wort (Joh. 1:1)? Nein, am Anfang stehen Hunger und Durst. Wenn wir diese elementaren Bedürfnisse zum ersten Mal im Leben verspüren, veranlasst uns dieses Gefühl nicht dazu, nach Nahrung zu suchen, sondern dazu, einfach loszubrüllen - eine denkbar schlechte Strategie, wenn wir allein auf der Welt wären. Aber wir sind nicht allein (1. Mose 2:18). In aller Regel gibt es in dieser allerersten Zeit unseres Lebens zumindest ein Wesen, das wir schon durch unsere bloße Anwesenheit glücklich machen: unsere Mutter. Sie, und meistens auch noch eine Menge anderer Wesen, sind bereit, alles für uns zu tun, wonach auch immer wir verlangen.
Zuerst ist es nicht viel, was wir verlangen: Regelmäßige Mahlzeiten, und ein bisschen Unterhaltung. Aber im Laufe der Jahre werden wir anspruchsvoller. Wir beginnen, uns selbst für wichtig zu halten, und wir streben nach Besitz und nach Anerkennung. Und bald müssen wir die Erfahrung machen, dass es nicht genügt, loszuplärren, wenn wir etwas erreichen wollen. Wir lernen, dass man im Leben für alles bezahlen muss, und sei es nur mit einem freundlichen Lächeln, auch wenn uns nicht danach zumute ist, freundlich zu lächeln. Wir üben uns in Strategien. Wir gehen Kompromisse ein. Wir unternehmen einen Tauschhandel. Wir investieren Zeit und Mühe, in der Hoffnung, es würde sich eines Tages bezahlt machen. Wir ziehen Schlüsse, entwerfen Pläne, haben Träume und Hoffnungen, erleben Enttäuschungen, setzen uns durch, beweisen Ausdauer und Weitblick, wir gehen Allianzen ein, nehmen Stellung, wir machen uns Feinde, wir begehen Irrtümer, wir bitten um Rat oder um Hilfe, wir erweisen uns als dankbar, wir fühlen uns verpflichtet, haben hin und wieder ein schlechtes Gewissen, wir erinnern uns an früher, und wir vergessen vieles von dem, was früher war.
Wir stehen Tag für Tag vor Dutzenden, Jahr für Jahr vor Tausenden von unterschiedlichen Problemen, die wir lösen müssen, und wir machen aus diesem Grund ununterbrochen unzählige Lernprozesse mit. Normalerweise besteht ein solcher Lernprozess aus einer Reihe von aufeinanderfolgenden Phasen. (1) Auftreten eines Bedürfnisses oder Wunsches; (2) Überlegung, wie das Bedürfnis zu befriedigen bzw. der Wunsch zu erfüllen wäre; (3) Wahl einer Strategie und Entwurf eines Planes; (4) Ausführen des Planes; (5) Überprüfung des Erfolges: wurde das gewünschte Ziel erreicht? (6) Ende des Lernprozesses, falls das Ziel erreicht wurde; falls nicht, muss man zu Phase 4, 3 oder 2 zurückkehren; bei besonders zähen Problemen empfiehlt sich sogar eine Rückkehr zu Phase 1: Manchmal kann man ein Problem nur lösen, indem man es aus der Welt schafft (nicht einfach!). Ein gutes Beispiel für den zuletzt genannten Lösungsansatz ist die Bewältigung des Todes durch das Christentum: Kein Körper, kein Tod; kein Tod, kein Problem: 'Tod, wo ist dein Stachel?' (1. Kor. 15:55).
Um erfolgreich die oben skizzierten Phasen einer Problembehandlung absolvieren zu können, ist eines ganz besonders wichtig: ein gutes Gedächtnis. Was hätte ich davon, wenn ich schließlich bei Punkt 6 angelangt bin, feststelle, dass ich erfolgreich war (immerhin!), mich aber nicht mehr erinnern kann, mit welcher Strategie ich zum Erfolg gekommen bin? Auch wenn ich erfolglos war, muss ich mich erinnern können, womit ich erfolglos war, um meine Vorgangsweise ändern zu können. Je mehr Probleme man gleichzeitig ungelöst vor sich herschiebt, umso größer wird die Aufgabe für das Gedächtnis. Teleologisch betrachtet erscheint es sinnvoll, wenn Strategien, die zum Erfolg geführt haben, beibehalten werden. Demnach sollte ein Gefühl von Erfolg Gedächtnisinhalte festigen, die mit der betreffenden Strategie in Verbindung stehen. Umgekehrt erscheint es nicht sinnvoll, sich erfolglose Strategien länger als nötig zu merken; man sollte sie spätestens dann vergessen, wenn man mit Hilfe einer anderen Strategie zum Erfolg gekommen ist.
Aus dem eben Gesagten ergibt sich eine verblüffende Schlussfolgerung: Erfolg entlastet das Gedächtnis. Umgekehrt betrachtet: Ständige Misserfolge führen über kurz oder lang zu einem memory overflow, also zu einer Überforderung des Gedächtnisses. Die erfolglos angewandten Strategien werden allmählich so zahlreich, dass der Betreffende sich bald nicht mehr an alle erinnern kann. Es wird ihm immer öfter passieren, dass er Strategien, die er schon einmal erfolglos eingesetzt hat, ein weiteres Mal einsetzt, weil er es einfach nicht mehr weiß. Dadurch gerät er in einen Teufelskreis, und in seinem Gehirn wächst die Anzahl nicht durch Erfolg gefestigter Gedächtnisinhalte. Solch nicht-definitive Gedächtnisspuren im Gehirn könnten für die Integrität von Neuronen gefährlich sein, aus Gründen, die wir wissenschaftlich einstweilen noch nicht verstehen. Die Konsequenz könnten funktionelle Störungen sein wie die endogene Depression, oder auch eine Schädigung des Gedächtnisses selbst wie bei der Alzheimer'schen Krankheit.
10/89 <          MB (11/98)          > 12/98
Age-dependent memory decline