Morbus Alzheimer:
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Im
Grunde genommen sind wir Menschen ja recht einfach gebaut. Wir haben
Wünsche und Bedürfnisse, und wir unternehmen das, was getan werden
muss, um uns unsere Wünsche zu erfüllen und um unsere Bedürfnisse zu
befriedigen. Die Welt, in der wir leben, die ist kompliziert. Es ist
nämlich gar nicht so leicht herauszufinden, auf welche Weise man als
Mensch sich seine Wünsche erfüllen und seine Bedürfnisse befriedigen
kann. Wir leben schließlich nicht im Schlaraffenland, wo einem die
gebratenen Tauben in den Mund fliegen und wo sich der fantasievolle
Mensch noch so manches andere vorstellen könnte (wer mag schon
Tauben...). |
Am
Anfang war das Wort (Joh. 1:1)? Nein, am Anfang stehen Hunger und
Durst. Wenn wir diese elementaren Bedürfnisse zum ersten Mal im Leben
verspüren, veranlasst uns dieses Gefühl nicht dazu, nach Nahrung zu
suchen, sondern dazu, einfach loszubrüllen - eine denkbar schlechte
Strategie, wenn wir allein auf der Welt wären. Aber wir sind nicht
allein (1. Mose 2:18). In aller Regel gibt es in dieser allerersten
Zeit unseres Lebens zumindest ein Wesen, das wir schon durch unsere
bloße Anwesenheit glücklich machen: unsere Mutter. Sie, und meistens
auch noch eine Menge anderer Wesen, sind bereit, alles für uns zu tun,
wonach auch immer wir verlangen. |
Zuerst
ist es nicht viel, was wir verlangen: Regelmäßige Mahlzeiten, und ein
bisschen Unterhaltung. Aber im Laufe der Jahre werden wir
anspruchsvoller. Wir beginnen, uns selbst für wichtig zu halten, und
wir streben nach Besitz und nach Anerkennung. Und bald müssen wir die
Erfahrung machen, dass es nicht genügt, loszuplärren, wenn wir etwas
erreichen wollen. Wir lernen, dass man im Leben für alles bezahlen
muss, und sei es nur mit einem freundlichen Lächeln, auch wenn uns
nicht danach zumute ist, freundlich zu lächeln. Wir üben uns in
Strategien. Wir gehen Kompromisse ein. Wir unternehmen einen
Tauschhandel. Wir investieren Zeit und Mühe, in der Hoffnung, es würde
sich eines Tages bezahlt machen. Wir ziehen Schlüsse, entwerfen Pläne,
haben Träume und Hoffnungen, erleben Enttäuschungen, setzen uns durch,
beweisen Ausdauer und Weitblick, wir gehen Allianzen ein, nehmen
Stellung, wir machen uns Feinde, wir begehen Irrtümer, wir bitten um
Rat oder um Hilfe, wir erweisen uns als dankbar, wir fühlen uns
verpflichtet, haben hin und wieder ein schlechtes Gewissen, wir
erinnern uns an früher, und wir vergessen vieles von dem, was früher
war. |
Wir
stehen Tag für Tag vor Dutzenden, Jahr für Jahr vor Tausenden von
unterschiedlichen Problemen, die wir lösen müssen, und wir machen aus
diesem Grund ununterbrochen unzählige Lernprozesse mit. Normalerweise
besteht ein solcher Lernprozess aus einer Reihe von
aufeinanderfolgenden Phasen. (1) Auftreten eines Bedürfnisses oder
Wunsches; (2) Überlegung, wie das Bedürfnis zu befriedigen bzw. der
Wunsch zu erfüllen wäre; (3) Wahl einer Strategie und Entwurf eines
Planes; (4) Ausführen des Planes; (5) Überprüfung des Erfolges: wurde
das gewünschte Ziel erreicht? (6) Ende des Lernprozesses, falls das
Ziel erreicht wurde; falls nicht, muss man zu Phase 4, 3 oder 2
zurückkehren; bei besonders zähen Problemen empfiehlt sich sogar eine
Rückkehr zu Phase 1: Manchmal kann man ein Problem nur lösen, indem man
es aus der Welt schafft (nicht einfach!). Ein gutes Beispiel für den
zuletzt genannten Lösungsansatz ist die Bewältigung des Todes durch
das Christentum: Kein Körper, kein Tod; kein Tod, kein Problem: 'Tod,
wo ist dein Stachel?' (1. Kor. 15:55). |
Um
erfolgreich die oben skizzierten Phasen einer Problembehandlung
absolvieren zu können, ist eines ganz besonders wichtig: ein gutes
Gedächtnis. Was hätte ich davon, wenn ich schließlich bei Punkt 6
angelangt bin, feststelle, dass ich erfolgreich war (immerhin!), mich
aber nicht mehr erinnern kann, mit welcher Strategie ich zum Erfolg
gekommen bin? Auch wenn ich erfolglos war, muss ich mich erinnern
können, womit ich erfolglos war, um meine Vorgangsweise ändern zu
können. Je mehr Probleme man gleichzeitig ungelöst vor sich herschiebt,
umso größer wird die Aufgabe für das Gedächtnis. Teleologisch
betrachtet erscheint es sinnvoll, wenn Strategien, die zum Erfolg
geführt haben, beibehalten werden. Demnach sollte ein Gefühl von Erfolg
Gedächtnisinhalte festigen, die mit der betreffenden Strategie in
Verbindung stehen. Umgekehrt erscheint es nicht sinnvoll, sich
erfolglose Strategien länger als nötig zu merken; man sollte sie
spätestens dann vergessen, wenn man mit Hilfe einer anderen Strategie
zum Erfolg gekommen ist. |
Aus
dem eben Gesagten ergibt sich eine verblüffende Schlussfolgerung:
Erfolg entlastet das Gedächtnis. Umgekehrt betrachtet: Ständige
Misserfolge führen über kurz oder lang zu einem memory overflow, also
zu einer Überforderung des Gedächtnisses. Die erfolglos angewandten
Strategien werden allmählich so zahlreich, dass der Betreffende sich
bald nicht mehr an alle erinnern kann. Es wird ihm immer öfter
passieren, dass er Strategien, die er schon einmal erfolglos eingesetzt
hat, ein weiteres Mal einsetzt, weil er es einfach nicht mehr weiß.
Dadurch gerät er in einen Teufelskreis, und in seinem Gehirn wächst
die Anzahl nicht durch Erfolg gefestigter Gedächtnisinhalte. Solch
nicht-definitive Gedächtnisspuren im Gehirn könnten für die Integrität
von Neuronen gefährlich sein, aus Gründen, die wir wissenschaftlich
einstweilen noch nicht verstehen. Die Konsequenz könnten funktionelle
Störungen sein wie die endogene Depression, oder auch eine Schädigung
des Gedächtnisses selbst wie bei der Alzheimer'schen Krankheit. |
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