Pablo Picsso: Le rêve (1932)

Warum wir träumen

Wenn wir träumen, kommt es zu Verwechslungen,b ohne dass wir es merken. Nur manchmal, wenn uns kurz nach dem Erwachen noch ein paar Worte 'im Ohr klingen', werden wir uns dessen bewusst. Wir stellen dann verwirrt fest, dass die Worte im Traum ganz selbstverständlich eine andere Bedeutung hatten als sie sie im wörtlichen Sinne hätten. Auf diese Weise verlaufen unsere Träume nach einer 'inneren Logik'; der Kommentar, der wie eine Theaterstimme aus dem off den roten Faden für unsere Traumgeschichten spinnt, würde uns ziemlich verwirren, könnten wir ihn auf Band aufzeichnen und ihn im Wachzustand hören.
Worte werden im Traum nicht beliebig vertauscht. Sie müssen schon wenigstens eine Art Kategorie gemeinsam haben. Auf jeden Fall können Hauptworte nur mit Hauptworten, Zeitworte nur mit Zeitworten vertauscht werden. Die Grammatik muss wenigstens einigermaßen stimmen. Auch kann ein Hauptwort nicht durch ein beliebiges anderes Hauptwort ersetzt werden, auch wenn hier bereits ein erstaunlicher Spielraum besteht. Manchesmal klingen die vertauschten Worte (phonetisch) ähnlich, manchmal haben sie eine ähnliche Bedeutung. In letzterem Fall führt die Verwechslung zu keinem besonders ungewöhnlichen Ergebnis (ungewöhnlich für unsere wachen, sich kritisch erinnernden Ohren, nie ungewöhnlich für uns Träumende). In ersterem Fall können schon einige recht paradoxe Aussagen zustande kommen, die wörtlich betrachtet keinerlei Sinn haben - auch wenn der Sinn im Traum durchaus einfach, ja oft geradezu trivial war. Wie kommt es zu dieser Unschärfe der geträumten Begriffe?
Ich denke, wir träumen in erster Linie in allgemeinen Kategorien, in archetypischen Grundstrukturen, in die die Worte und Begriffe ziemlich großzügig eingeordnet werden. Unsere Träume geben sich nicht mit Details ab. Sie haben Wichtigeres zu tun. Sie müssen die Ereignisse und Eindrücke der vergangenen Stunden, Tage, Wochen auf die Reihe kriegen, zusammen mit den Erinnerungen eines ganzen Lebens. Nur so, unter Zulassung größter Flüchtigkeit, größter Unaufmerksamkeit, unter großzügiger Missachtung all der Kleinigkeiten, an denen sonst, im Wachzustand, unser gesunder Menschenverstand sofort scheitern würde, schaffen wir jede Nacht aufs Neue die große Synthese, die große Gesamtdarstellung unserer Persönlichkeit. Die frischen und die halbfrischen Gedächtnisspuren der letzten Stunden und Tage werden in ihre Elemente zerlegt, werden auf ihre Bedeutungen abgeklopft, werden herumgewirbelt und mit unseren geheimsten Ahnungen, Ängsten und Sehnsüchten konfrontiert und in Beziehung gesetzt. Muster bilden sich aus, Ähnlichkeiten werden entdeckt, und schließlich werden die neuen Eindrücke zu den Akten gelegt, jeder dorthin, wohin er gehört.
Auf diese Weise wird von Anfang an Persönlichkeit gebildet. Manches davon werden wir uns gut merken, anderes wird in der Erinnerung ein wenig 'zurechtgebogen', und wieder anderes wird einfach verloren gehen, weil es offenbar nirgends hingepasst hat und wir damit nichts anfangen konnten. Mit der Zeit wird jeder mehr und mehr zu einer unverwechselbaren Ansammlung von Gedächtnisinhalten und Denkstrategien; wir entwickeln Identität, wir werden erkennbar, und unser Verhalten wird für unsere Mitmenschen bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar.
Manche behaupten, wir träumen, um zu vergessen. Daran glaube ich nicht. Ich glaube, dass wir träumen, um unsere Gedächtnisinhalte möglichst sparsam und diszipliniert zu verwalten. Letztlich läuft es auf das Gleiche hinaus: Unser Gedächtnis wird durch Träumen entlastet, aber nicht durch die Streichung 'unnützer Erinnerungen', sondern durch ein ständiges Umordnen und Umstrukturieren. Wir verwalten unser Gehirn XE "Gehirn"  wie eine große Sammlung von Aktenordnern. In dieser Sammlung gibt es Überbegriffe und Querverweise, und wenn wir einen neuen Eindruck verarbeiten müssen, ist uns nicht immer gleich klar, in welchen der zahllosen Ordner er am besten passt. Je passender wir den neuen Eindruck ablegen, desto einfacher wird es für uns, ihn später einmal wiederzufinden.
Mit meiner Literatursammlung verhält es sich ähnlich. Tausende und Abertausende von Sonderdrucken und Kopien habe ich in Hunderte von Hängeordnern eingeordnet. Das System ist über viele Jahre hin langsam gewachsen. Über Wissensgebiete, die mich nur wenig interessieren, habe ich nur wenige Arbeiten; in diesem Fall wähle ich einen ziemlich allgemeinen Ordnungsbegriff, z.B. Physik oder Politik, oder im Extremfall 'Diverses'. Je näher ich meinem eigentlichen Interesse komme, desto spezifischer werden die Bezeichnungen der Ordner: AMPA-Physiologie, AMPA-Bindung; damit kann kaum mehr jemand etwas anfangen außer mir selbst.
Wenn ich die jüngste Literatur studiere, auf der Suche nach neuen, für mich interessanten Publikationen, so ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich Arbeiten bevorzuge, bei denen mir spontan einfällt, in welchem Ordner ich sie ablegen könnte. Hin und wieder kommt es vor, dass ich einen völlig neuen Ordner anlegen muss, wenn z.B. eine völlig neue Substanz entdeckt wurde, für die sich bald ein großer Teil der Fachwelt interessiert (so geschehen vor einigen Jahren mit Stickoxid - NO; seit damals sticht aus meiner Ordner- sammlung ein neuer mit N und O deutlich hervor). Aber meistens entstehen neue Ordner nur aufgrund meines immer spezifischer werdenden Interesses: Arbeiten, für die früher ein einziger Ordner gereicht hat, füllen heute vielleicht 7 oder 8 verschiedene. Und das geht immer so weiter.
Wichtig ist es, gute Bezeichnungen für die Ordner zu wählen, damit jene Arbeiten, für die ich mich besonders interessiere, möglichst passend, d.h. möglichst eindeutig abgelegt werden können, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, sie auf einen Griff wiederzufinden, auch nach Monaten und Jahren. Dass das leider eine Illusion bleibt, muss ich nur allzu oft feststellen, und es ist mir nicht erst einmal passiert, dass ich eine Arbeit ganz woanders und erst Wochen später durch Zufall gefunden habe, und nicht dort, wo ich sie vermutet hatte. Mein Ordnungssystem ist also keineswegs perfekt, aber ich meine, es ist besser und natürlicher, als so manche anderen, ziemlich sturen Systeme, die sich z.B. ausschließlich an der alphabetischen Reihenfolge des ersten Autors orientieren oder am Erscheinungsjahr der Publikation. Eigentlich bin ich immer auf der Suche nach einer Verbesserung meines Ordnungsprinzips.
Genauso ist auch unser Gehirn ständig auf der Suche nach dem bestmöglichen Ordnungsprinzip für unsere Gedächtnisinhalte. Und das Ordnungssystem unseres Gehirns ist meinen Literaturordnern himmelhoch überlegen. Seit Tausenden von Tagen wird es tagtäglich mit sensorischer Information jedweder Art überflutet, und ich bin trotzdem noch nicht verrückt geworden; die meisten von uns scheinen das auszuhalten und auch nach all den Jahren und Jahrzehnten eines Lebens immer noch zu wissen, wer sie sind und was sie wollen. Ich vermute, dass das nur möglich ist, weil uns jede Nacht eine uns angeborene Automatik die Ordnungsarbeit abnimmt. Ansonsten müssten wir wahrscheinlich alle wahnsinnig werden.
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