Warum wir träumen
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Wenn
wir träumen, kommt es zu Verwechslungen,b ohne dass wir es merken. Nur
manchmal, wenn uns kurz nach dem Erwachen noch ein paar Worte 'im Ohr
klingen', werden wir uns dessen bewusst. Wir stellen dann verwirrt
fest, dass die Worte im Traum ganz selbstverständlich eine andere
Bedeutung hatten als sie sie im wörtlichen Sinne hätten. Auf diese
Weise verlaufen unsere Träume nach einer 'inneren Logik'; der
Kommentar, der wie eine Theaterstimme aus dem off den roten Faden für
unsere Traumgeschichten spinnt, würde uns ziemlich verwirren, könnten
wir ihn auf Band aufzeichnen und ihn im Wachzustand hören.
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Worte
werden im Traum nicht beliebig vertauscht. Sie müssen schon wenigstens
eine Art Kategorie gemeinsam haben. Auf jeden Fall können Hauptworte
nur mit Hauptworten, Zeitworte nur mit Zeitworten vertauscht werden.
Die Grammatik muss wenigstens einigermaßen stimmen. Auch kann ein
Hauptwort nicht durch ein beliebiges anderes Hauptwort ersetzt werden,
auch wenn hier bereits ein erstaunlicher Spielraum besteht. Manchesmal
klingen die vertauschten Worte (phonetisch) ähnlich, manchmal haben sie
eine ähnliche Bedeutung. In letzterem Fall führt die Verwechslung zu
keinem besonders ungewöhnlichen Ergebnis (ungewöhnlich für unsere
wachen, sich kritisch erinnernden Ohren, nie ungewöhnlich für uns
Träumende). In ersterem Fall können schon einige recht paradoxe
Aussagen zustande kommen, die wörtlich betrachtet keinerlei Sinn haben
- auch wenn der Sinn im Traum durchaus einfach, ja oft geradezu trivial
war. Wie kommt es zu dieser Unschärfe der geträumten Begriffe?
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Ich
denke, wir träumen in erster Linie in allgemeinen Kategorien, in
archetypischen Grundstrukturen, in die die Worte und Begriffe ziemlich
großzügig eingeordnet werden. Unsere Träume geben sich nicht mit
Details ab. Sie haben Wichtigeres zu tun. Sie müssen die Ereignisse und
Eindrücke der vergangenen Stunden, Tage, Wochen auf die Reihe kriegen,
zusammen mit den Erinnerungen eines ganzen Lebens. Nur so, unter
Zulassung größter Flüchtigkeit, größter Unaufmerksamkeit, unter
großzügiger Missachtung all der Kleinigkeiten, an denen sonst, im
Wachzustand, unser gesunder Menschenverstand sofort scheitern würde,
schaffen wir jede Nacht aufs Neue die große Synthese, die große
Gesamtdarstellung unserer Persönlichkeit. Die frischen und die
halbfrischen Gedächtnisspuren der letzten Stunden und Tage werden in
ihre Elemente zerlegt, werden auf ihre Bedeutungen abgeklopft, werden
herumgewirbelt und mit unseren geheimsten Ahnungen, Ängsten und
Sehnsüchten konfrontiert und in Beziehung gesetzt. Muster bilden sich
aus, Ähnlichkeiten werden entdeckt, und schließlich werden die neuen
Eindrücke zu den Akten gelegt, jeder dorthin, wohin er gehört.
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Auf
diese Weise wird von Anfang an Persönlichkeit gebildet. Manches davon
werden wir uns gut merken, anderes wird in der Erinnerung ein wenig
'zurechtgebogen', und wieder anderes wird einfach verloren gehen, weil
es offenbar nirgends hingepasst hat und wir damit nichts anfangen
konnten. Mit der Zeit wird jeder mehr und mehr zu einer
unverwechselbaren Ansammlung von Gedächtnisinhalten und Denkstrategien;
wir entwickeln Identität, wir werden erkennbar, und unser Verhalten
wird für unsere Mitmenschen bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar.
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Manche behaupten, wir träumen, um zu vergessen. Daran glaube ich nicht.
Ich glaube, dass wir träumen, um unsere Gedächtnisinhalte möglichst
sparsam und diszipliniert zu verwalten. Letztlich läuft es auf das
Gleiche hinaus: Unser Gedächtnis wird durch Träumen entlastet, aber
nicht durch die Streichung 'unnützer Erinnerungen', sondern durch ein
ständiges Umordnen und Umstrukturieren. Wir verwalten unser Gehirn XE
"Gehirn" wie eine große Sammlung von Aktenordnern. In dieser Sammlung
gibt es Überbegriffe und Querverweise, und wenn wir einen neuen
Eindruck verarbeiten müssen, ist uns nicht immer gleich klar, in
welchen der zahllosen Ordner er am besten passt. Je passender wir den
neuen Eindruck ablegen, desto einfacher wird es für uns, ihn später
einmal wiederzufinden. |
Mit
meiner Literatursammlung verhält es sich ähnlich.
Tausende und Abertausende von Sonderdrucken und Kopien habe ich in
Hunderte von Hängeordnern eingeordnet. Das System ist über viele Jahre
hin langsam gewachsen. Über Wissensgebiete, die mich nur wenig
interessieren, habe ich nur wenige Arbeiten; in diesem Fall wähle ich
einen ziemlich allgemeinen Ordnungsbegriff, z.B. Physik oder Politik,
oder im Extremfall 'Diverses'. Je näher ich meinem eigentlichen
Interesse komme, desto spezifischer werden die Bezeichnungen der
Ordner: AMPA-Physiologie, AMPA-Bindung; damit kann kaum mehr jemand
etwas anfangen außer mir selbst.
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Wenn ich die jüngste Literatur
studiere, auf der Suche nach neuen, für mich interessanten
Publikationen, so ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich
Arbeiten bevorzuge, bei denen mir spontan einfällt, in welchem Ordner
ich sie ablegen könnte. Hin und wieder kommt es vor, dass ich einen
völlig neuen Ordner anlegen muss, wenn z.B. eine völlig neue Substanz
entdeckt wurde, für die sich bald ein großer Teil der Fachwelt
interessiert (so geschehen vor einigen Jahren mit Stickoxid - NO; seit
damals sticht aus meiner Ordner- sammlung ein neuer mit N und O deutlich
hervor). Aber meistens entstehen neue Ordner nur aufgrund meines immer
spezifischer werdenden Interesses: Arbeiten, für die früher ein
einziger Ordner gereicht hat, füllen heute vielleicht 7 oder 8
verschiedene. Und das geht immer so weiter. |
Wichtig ist es, gute
Bezeichnungen für die Ordner zu wählen, damit jene Arbeiten, für die
ich mich besonders interessiere, möglichst passend, d.h. möglichst
eindeutig abgelegt werden können, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit,
sie auf einen Griff wiederzufinden, auch nach Monaten und Jahren. Dass
das leider eine Illusion bleibt, muss ich nur allzu oft feststellen,
und es ist mir nicht erst einmal passiert, dass ich eine Arbeit ganz
woanders und erst Wochen später durch Zufall gefunden habe, und nicht
dort, wo ich sie vermutet hatte. Mein Ordnungssystem ist also
keineswegs perfekt, aber ich meine, es ist besser und natürlicher, als
so manche anderen, ziemlich sturen Systeme, die sich z.B.
ausschließlich an der alphabetischen Reihenfolge des ersten Autors
orientieren oder am Erscheinungsjahr der Publikation. Eigentlich bin
ich immer auf der Suche nach einer Verbesserung meines Ordnungsprinzips.
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Genauso ist auch unser Gehirn
ständig auf der Suche nach dem bestmöglichen Ordnungsprinzip für unsere
Gedächtnisinhalte. Und das Ordnungssystem unseres Gehirns ist meinen
Literaturordnern himmelhoch überlegen. Seit Tausenden von Tagen wird
es tagtäglich mit sensorischer Information jedweder Art überflutet,
und ich bin trotzdem noch nicht verrückt geworden; die meisten von uns
scheinen das auszuhalten und auch nach all den Jahren und Jahrzehnten
eines Lebens immer noch zu wissen, wer sie sind und was sie wollen. Ich
vermute, dass das nur möglich ist, weil uns jede Nacht eine uns
angeborene Automatik die Ordnungsarbeit abnimmt. Ansonsten müssten wir
wahrscheinlich alle wahnsinnig werden.
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