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Marlene Dietrich & Gary Cooper in the Ernst Lubitsch movie Desire (1934) |
Schon seit Platos Zeiten (und vermutlich schon viel länger) ist unser grüblerischer Geist von der Vorstellung fasziniert, die Welt um uns herum wäre nur eine Illusion. Es mag sein, daß diese Ideen deshalb auf eine gewisse Akzeptanz, ja Bewunderung stoßen, weil ihnen ein hoher Unterhaltungswert innewohnt. Den Vogel abgeschossen haben wohl jene extremen Interpreten der modernen Quantentheorie, die nicht davor zurückscheuten, Erkenntnisse aus dem Mikrokosmos auf makroskopische Objekte zu übertragen. Allgemeinverständlich formuliert betrachten sie eine mögliche Realität erst dann als wirklich, wenn durch Beobachtung festgestellt wurde, welche der Möglichkeiten nun tatsächlich zutrifft. Im Vergleich zum radikal-philosophischen Standpunkt mag das auf den ersten Blick noch recht zahm anmuten; in Wahrheit könnte der quantentheoretische Zugang eine Reihe von verblüffenden Perspektiven eröffnen. |
Wenn von Beobachtung die Rede ist, erhebt sich sofort die Frage, wer denn da beobachtet. Genau genommen kann sich jeder von uns nur in Bezug auf eine Beobachtung sicher sein: Nur das, was wir "mit eigenen Augen" sehen, überzeugt uns restlos (wenngleich man zurecht einwenden kann, daß auch unsere eigenen Augen getäuscht werden können). Der weitaus größte Teil unseres Wissens stammt aber aus zweiter Hand, aus Beobachtungen, die andere gemacht haben. Wir sind darauf angewiesen, unseren Mitmenschen auf Schritt und Tritt zu glauben und zu vertrauen. |
In dem Schwarz/Weiß-Klassiker Desire (USA 1934, Drehbuch Ernst Lubitsch) sagt der von dem damals noch sehr jungen Gary Cooper dargestellte Held, schon ziemlich am Ende des Filmes, zur schönen Diebin Madleine (Marlene Dietrich): "Wenn man bedenkt, daß ich dich noch vor 2 Tagen nicht gekannt habe...", worauf sie antwortet: "Vor 2 Tagen hast du noch gar nicht existiert." Der passionierte Kinogeher lächelt, der quantentheoretisch verunsicherte Neurowissenschafter spitzt die Ohren (so geschehen im Votivkino zum Matinée-Termin am 14. Februar d. J.). Hätte Madleine gesagt: "Für mich hast du noch nicht existiert", wäre ihre Aussage trivial gewesen. Es paßt natürlich zum mondän-egozentrischen Gehabe der Dietrich, daß sie glattweg behauptet, er hätte damals noch überhaupt nicht existiert. |
Vergessen wir für einen Moment, um die Sache nicht unnötig zu komplizieren, daß es sich nur um einen Film handelt und daß die von Cooper dargestellte Person ja wirklich nur eine Fiktion war. Im wirklichen Leben wäre es sicher möglich, den Gegenbeweis anzutreten, aufgebaut auf dem (berechtigten?) Glauben an Personen, die den Mann schon davor gekannt haben, bis hin zum Glauben an den Standesbeamten, dessen Unterschrift auf der Geburtsurkunde steht. Wie recht sie doch eigentlich hat, die Dietrich! Woher wollen wir wirklich wissen, daß es den Menschen, den wir erst morgen kennen lernen werden, heute schon gibt? Einen Menschen, von dem wir bis heute nichts gehört haben! Ist er nicht nur eine Möglichkeit unter unzähligen anderen, die erst durch unsere Erfahrung, unsere Beobachtung zur Wirklichkeit wird, so ähnlich, wie die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wellenfunktion erst "unter dem Druck der Beobachtung zur Realität kollabiert"? |
Wenn wir diesen Ansatz bis zur letzten Konsequenz durchdenken, landen wir unweigerlich bei der sogenannten "Viel-Welten-Theorie" (Smith & Szathmáry 1996): Jeder von uns erschafft laufend im Zuge fortschreitender Beobachtung und Registrierung immer größere Bereiche seiner Umwelt, seiner persönlichen, eigenen Welt, mit sich selbst in deren Mittelpunkt. Ergo gibt es so viele unterschiedliche Welten als es unterschiedliche Beobachter gibt. Erst durch Kommunikation untereinander stellen wir fest, daß diese verschiedenen Welten einander sehr ähnlich sein müssen, so ähnlich, daß sich uns die Hypothese aufdrängt, sie wären alle ein und dieselbe Welt (nur in Ausnahmefällen sind wir versucht zu sagen: der lebt in einer anderen Welt!). Demnach ist die Vorstellung von einer realen, einzigen Welt das Ergebnis einer Leistung unseres Bewußtseins und der Kommunikation zwischen uns auf Grundlage unseres Bewußtseins. Ohne diese Kommunikation könnten wir nicht ausschließen, daß sich Dinge oder Personen erst in jenem Moment quasi materialisieren, in dem wir sie zum 1. Mal vor uns sehen. Zwar weisen wir diese Vorstellung intuitiv als absurd zurück, aber nur deshalb, weil wir uns bisher noch immer (im Nachhinein!) davon überzeugen konnten, daß es die betreffenden Objekte bzw. Personen schon vor unserer Erstbegegnung gegeben hat. Wir verlassen uns dabei aber ausschließlich auf die Aussagen anderer und vertrauen darauf, daß man uns nicht hinters Licht führt. |
In die gleiche Rubrik gehört die Frage, ob es die Dinge auch gibt, wenn wir gerade nicht hinsehen. Für Kinder ist das gar keine klare Sache. Sie schließen die Augen, wenn sie sich versteckt haben und nicht entdeckt werden wollen. Sie müssen erst lernen, daß die Welt weiter existiert, auch wenn sie die Augen schließen. Sie lernen es, weil man es ihnen sagt. Mit etwas Fantasie kann ich mir ohne Weiteres vorstellen, daß sich hinter meinem Rücken Möbel und Wände verschieben, sich Abgründe auftun, Ungeheuer zum Sprung ansetzen, und wenn ich mich umdrehe - ist in einem Sekundenbruchteil wieder alles "normal". Ständig sind wir umgeben von wuchernden schemenhaften Wahrscheinlichkeits- bergen und -tälern, und erst unser Blick, unser bewußtes Erkennen läßt sie zur scheinbar so sicheren und unverrückbaren Wirklichkeit erstarren. |
Der Verdacht, unser Bewußtsein könnte irgendetwas mit der Quantentheorie zu tun haben, scheint also gar nicht so weit hergeholt zu sein; wir wissen nur noch nicht, was. Bei all diesen Überlegungen dürfen wir aber eines nie vergessen: Auch die Quantentheorie ist ein Produkt unseres Bewußtseins. Die vermutete Beziehung könnte sich somit als trivialer erweisen, als sich das unser sensationslustiger Geist gerne vorstellt... |
Jeffrey M.
Schwartz, Henry P. Stapp, Mario Beauregard (2005) Quantum physics in
neuroscience and psychology: a neurophysical model of mind-brain
interaction. Phil. Trans. R. Soc. B, 360: 1309- 1327. Smith & Szathmáry (1996) On the likelihood of habitable worlds. Nature 384, 107 |