Fremdwort Tugend |
So
feiert er allso fröhliche Urständ', der böse Nationalstaat, weltweit,
quer durch alle Populationen. Kaum kann man noch irgendwo den Deckel
draufhalten. Wir sind selber schuld. Viel zu lange haben wir seine
Triebkraft ungeregelt vor sich hin wuchern lassen: die Sehnsucht des
Menschen nach Seinesgleichen. Sie ist eben nicht nur eine peinliche
Verirrung, eine Entgleisung der man durch gute Bildung vorbeugen kann.
Sie gehört genuin zur menschlichen Art. Man muss ihr Raum und Gewand
geben. |
Mit
dem Sozialverhalten des Menschen ist es wie mit all seinen
Verhaltensweisen: Es gibt biologische Grundlagen und eine 'Überformung'
derselben durch Kultur und Tradition. Letztere wurden in den
vergangenen Jahrzehnten zunehmend vernachlässigt. Auch sich selbst
überlassene Kinder neigen (entgegen weit verbreiteter romantisierender
Vorstellungen) zu Verwahrlosung und Aggressivität (Blumenthal 2003). |
Wie
sich selbst überlassene Populationen miteinander umgehen zeigt das
Beispiel Papua-Neuguinea. Als vor ca. 10.000 Jahren Ackerbau und
Viehzucht entwickelt wurden, war diese riesige Insel einer von mehreren
Hotspots weltweit. Da dort (in Äquatornähe) die besten
Lebensbedingungen im Hochland herrschen, entstanden in den Hochtälern
über 800 verschiedene Sprachen. Jede dieser Populationen führte
sporadisch Krieg mit den Nachbarn (Tree 1996). In den Jahrtausenden
dieser dynamischen Prozesse kam es nie zur Ausbildung eines gemeinsamen
Regelsystems (und zu keiner gemeinsamen Sprache). |
Wir
stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen. Es wird wohl jeder
zustimmen, dass wir uns Kriege zur 'Lösung' von Konflikten lieber nicht
auf die Dauer leisten sollten. Wenn wir nichts tun und den Dingen
einfach ihren Lauf lassen, wird aber genau das geschehen. Wenigstens
diese Lehre könnten wir aus der Betrachtung unserer Geschichte ziehen. |
Unsere
biologisch angelegten Grundneigungen kennen wir bis zum Abwinken. Wir
sollten uns mit etwas mehr Sorgfalt um ihre 'Überformung' kümmern. Was
bedeutet das? Es gibt einige schon der Antike wohl bekannte Tugenden.
Sie poppen nicht von selbst in unseren Kinderzimmern und Schulklassen
auf wie die Schwammerln an einem warmen Herbsttag in unseren Wäldern.
Unsere Kinder lernen Schreiben und Lesen, Rechnen, Fremdsprachen, auf
Computern herumzutippen und -wischen. Aber sonst? |
Nach
welchen Regeln man im Alltag handelt bleibt mehr oder weniger 'freie
Wildbahn'. Der junge Mensch nimmt sich ein Beispiel da und dort, das
Angebot ist riesig. Ist es gut, dass wir das locker nehmen? Wie sieht
unser Input aus? Mal eine Bemerkung hier, mal ein Tadel dort? Wir haben
keine Zeit für sowas. Wir vertrauen auf unser gelebtes Beispiel. Leider
gelingen viele unserer Leben so schlecht, dass man nur hoffen kann,
dass sich niemand daran ein Beispiel nimmt. |
Hoffen
wir lieber auf die schönen Künste. Vielleicht gelingt es, die
wertvollsten Hervorbringungen, zu denen Menschen fähig sind, medial so
gut zu verbreiten, dass sie ihre nach ihnen lechzenden jugendlichen
Ziele erreichen. Damit ein solcher Prozess funktionieren kann, müssen
wir allerdings unsere Kommunikationsmittel besser aufstellen als das
momentan der Fall ist - und uns in Geduld üben. Ein bis 2 Generationen
wird es schon dauern, bis eine effizientere Vermittlung von Tugenden
Wirkung zeigt. Bis dahin heißt es hoffen und beten, dass nichts
Gröberes passiert. |
P.J. Blumenthal (2003) Kaspar Hausers Geschwister. Piper.
I. Tree (1996) Islands in the clouds. Lonely Planet |
10/24 < MB (11/24) > 12/24 |
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