Aristoteles

Fremdwort Tugend

So feiert er allso fröhliche Urständ', der böse Nationalstaat, weltweit, quer durch alle Populationen. Kaum kann man noch irgendwo den Deckel draufhalten. Wir sind selber schuld. Viel zu lange haben wir seine Triebkraft ungeregelt vor sich hin wuchern lassen: die Sehnsucht des Menschen nach Seinesgleichen. Sie ist eben nicht nur eine peinliche Verirrung, eine Entgleisung der man durch gute Bildung vorbeugen kann. Sie gehört genuin zur menschlichen Art. Man muss ihr Raum und Gewand geben.
Mit dem Sozialverhalten des Menschen ist es wie mit all seinen Verhaltensweisen: Es gibt biologische Grundlagen und eine 'Überformung' derselben durch Kultur und Tradition. Letztere wurden in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend vernachlässigt. Auch sich selbst überlassene Kinder neigen (entgegen weit verbreiteter romantisierender Vorstellungen) zu Verwahrlosung und Aggressivität (Blumenthal 2003).
Wie sich selbst überlassene Populationen miteinander umgehen zeigt das Beispiel Papua-Neuguinea. Als vor ca. 10.000 Jahren Ackerbau und Viehzucht entwickelt wurden, war diese riesige Insel einer von mehreren Hotspots weltweit. Da dort (in Äquatornähe) die besten Lebensbedingungen im Hochland herrschen, entstanden in den Hochtälern über 800 verschiedene Sprachen. Jede dieser Populationen führte sporadisch Krieg mit den Nachbarn (Tree 1996). In den Jahrtausenden dieser dynamischen Prozesse kam es nie zur Ausbildung eines gemeinsamen Regelsystems (und zu keiner gemeinsamen Sprache).
Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen. Es wird wohl jeder zustimmen, dass wir uns Kriege zur 'Lösung' von Konflikten lieber nicht auf die Dauer leisten sollten. Wenn wir nichts tun und den Dingen einfach ihren Lauf lassen, wird aber genau das geschehen. Wenigstens diese Lehre könnten wir aus der Betrachtung unserer Geschichte ziehen.
Unsere biologisch angelegten Grundneigungen kennen wir bis zum Abwinken. Wir sollten uns mit etwas mehr Sorgfalt um ihre 'Überformung' kümmern. Was bedeutet das? Es gibt einige schon der Antike wohl bekannte Tugenden. Sie poppen nicht von selbst in unseren Kinderzimmern und Schulklassen auf wie die Schwammerln an einem warmen Herbsttag in unseren Wäldern. Unsere Kinder lernen Schreiben und Lesen, Rechnen, Fremdsprachen, auf Computern herumzutippen und -wischen. Aber sonst?
Nach welchen Regeln man im Alltag handelt bleibt mehr oder weniger 'freie Wildbahn'. Der junge Mensch nimmt sich ein Beispiel da und dort, das Angebot ist riesig. Ist es gut, dass wir das locker nehmen? Wie sieht unser Input aus? Mal eine Bemerkung hier, mal ein Tadel dort? Wir haben keine Zeit für sowas. Wir vertrauen auf unser gelebtes Beispiel. Leider gelingen viele unserer Leben so schlecht, dass man nur hoffen kann, dass sich niemand daran ein Beispiel nimmt.
Hoffen wir lieber auf die schönen Künste. Vielleicht gelingt es, die wertvollsten Hervorbringungen, zu denen Menschen fähig sind, medial so gut zu verbreiten, dass sie ihre nach ihnen lechzenden jugendlichen Ziele erreichen. Damit ein solcher Prozess funktionieren kann, müssen wir allerdings unsere Kommunikationsmittel besser aufstellen als das momentan der Fall ist - und uns in Geduld üben. Ein bis 2 Generationen wird es schon dauern, bis eine effizientere Vermittlung von Tugenden Wirkung zeigt. Bis dahin heißt es hoffen und beten, dass nichts Gröberes passiert.
P.J. Blumenthal (2003) Kaspar Hausers Geschwister. Piper.
I. Tree (1996) Islands in the clouds. Lonely Planet
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