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Auch Staaten sind Menschen

Und plötzlich haben sie wieder Konjunktur, die Vertreter extremer Standpunkte. Dabei haben meistens beide Recht, ohne es dem anderen zugeben zu können. Natürlich sind alle Menschen gleich, und natürlich ist jeder Mensch gleichzeitig viel mehr als nur ein Individuum. Es gibt nur ein taugliches Instrument, sich über den Konflikt zu stellen: die Vernunft. Sich ihrer zu ermächtigen ist nicht immer einfach, und doch dürfen wir nie müde werden, es immer wieder aufs Neue zu versuchen, auch wenn die Konflikte schier unentwirrbar und unausweichlich scheinen.
Da gibt es also eine Religion, der aktuell mehr als eine Milliarde Gläubige anhängen - Tendenz steigend - und die bis zum heutigen Tag daran festhält, ein einziger Gott hätte dem Gründer dieser Religion in die schreibende Hand diktiert, wie die Menschen ihr Leben zu gestalten hätten. Mir ist kein islamischer Gelehrter bekannt, der jemals behauptet hätte, Gott selbst hätte damals zur Feder gegriffen (Erzengel Gabriel soll als Zwischenstation fungiert haben).
Ca. 800 Jahre vor unserer Zeitrechnung war das noch anders. Als die Bibel der Juden entstand, wurde darin behauptet, Moses habe auf dem Berg Sinai von demselben Gott zwei Steintafeln erhalten, von Gott selbst beschrieben mit den 'Zehn Geboten'. Sogar zweimal musste dieser Gott den Griffel führen, denn die Erstausgabe zerschmiss der ein wenig cholerisch veranlagte Moses beim Anblick des von seinen Leuten umtanzten 'Goldenen Kalbs'. Es würde mich nicht wundern wenn jüdische Archäologen noch heute nach den Trümmern dieser Tafeln suchten, oder gar nach dem Steinabrieb, den Gott auf dem Gipfel des Berges bei seiner Steinmetzarbeit ohne Zweifel hinterlassen hatte.
Wir müssen gar nicht so weit zurückgehen in der Geschichte; auch aus der Neuzeit gibt es Beispiele absurder Konkretisierungen des vermeintlich Göttlichen. So wird von den 'Heiligen der Letzten Tage', den Mormonen (in den USA keine unbedeutende religiöse Gruppierung) bis zum heutigen Tag behauptet, ein ansonsten unbekannter Prophet namens Mormon (der vor über 1600 Jahren gelebt haben soll) hätte dem Religionsgründer Joseph Smith goldene Folien mit heiligen Texten zur Abschrift übergeben (die gespenstische Erscheinung nahm die Folien nach Abschrift wieder an sich).
Bei vielen Menschen fallen solche Vorstellungen auf erstaunlich fruchtbaren Boden. Auf seltsame Weise scheint autoritätshöriges Verhalten grundgelegt zu sein in der menschlichen Natur. Das Leben der Menschen ist kompliziert, vor allem in arbeitsteiligen Gesellschaften unter wechselnden Produktionsbedingungen. Wie beruhigend mag es doch für viele Menschen sein, sich gewiss sein zu können einer Instanz, mit der alles begonnen hat, die alles weiß, und die in allen Lebenslagen den besten Rat geben kann.
Aber auch die menschliche Neigung zur Auflehnung und zum Denken eigener Gedanken scheint grundgelegt zu sein. Es gibt immer ein paar, die zweifeln und unverschämt fragen, ob man etwas nicht besser machen könnte und sollte. Gerade in Gesellschaften mit lückenlos durchkonstruierten Verhaltenskonzepten waren solche Wortmeldungen schon immer gefährlich. Die Geschichte der Menschheit ist ein ständiges Hin und Her zwischen diesen Extremen.
Die fortschreitende Globalisierung, vor allem die immer einfacher werdende Kommunikation rund um den ganzen Erdball, lässt die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft immer deutlicher miterleben, wie sich Angehörige anderer Gesellschaften fühlen. Das führt immer häufiger zu fatalen Missverständnissen. Unser soziales Sensorium ist für solche Begegnungen exterritorialer Art schlecht gerüstet. Wir reagieren darauf leider meistens so, wie wir es aus unserem Alltag gewohnt sind.
Jede Gesellschaft kennt ihre eigenen Werte, ihre Dos and Don'ts, und es gehört zu den schwierigeren Übungen in zwischenmenschlichem Verhalten, durch die Untiefen transkultureller Kommunikation zu navigieren. Heute stehen wir öfter vor dieser Aufgabe als noch vor 50 Jahren. Viele Menschen sind dafür schlecht gerüstet. Die Unterschiede zwischen den Kulturen sind zwar nicht größer geworden (eher im Gegenteil), aber die Kontakte werden häufiger und intensiver.
Die vergangenen Jahrhunderte legen trauriges Zeugnis davon ab, wie oft gesellschaftliche Gegensätze zu Kriegen geführt haben. Wenn eingangs auf die Vernunft als probates Mittel verwiesen wurde, Konflikte auf weniger martialische Weise auszutragen, so muss leider davor gewarnt werden, sich von dieser Vernunft in kurzer Frist das Himmelreich auf Erden zu erwarten. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts führte zu 'Sturm und Drang', zur Französischen Revolution, dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und zu den Napoleonischen Kriegen. Nicht zuletzt legte sie auch den Keim zur Revolte der Arbeiterschaft gegen die industrielle Ausbeutung.
Der Vernunft zu folgen ist kein bequemer Weg. In autoritären Gesellschaften wird die Vernunft immer in Konflikt geraten mit der Staatsordnung. Was Kant noch für das Individuum formuliert hat, könnte man auch für ganze Kollektive formulieren: Jede Geselllschaft muss sich aus ihrer Unmündigkeit befreien und sich selbst jene Ordnung geben, auf die sie sich mehrheitlich einigen kann. Erst die Implementierung transparenter Entscheidungsabläufe ermöglicht die positive Identifizierung der Einzelnen mit dem größeren Ganzen. Vernunft und Objektivität sind dabei die besten Ratgeber, weil so ein interpersonales Kriterium eingeräumt wird, auf einer höheren Ebene als dem (möglicherweise egoistischen) Machtkalkül einzelner.
Zukünftige Gesellschaften wie man sie sich wünschen sollte werden sich gründen auf Vernunft und Objektivität, und trotzdem wird jede von ihnen ihren eigenen Charakter haben. Und es wird auch in diesen Gesellschaften Religionen geben. Jede Gesellschaft wird für alle in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Menschen Verhaltensregeln erlassen und kontinuierlich dem Mehrheitswillen anpassen. Die Rechte und Pflichten der Bürger werden daher weltweit nicht überall dieselben sein. Ich kann nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass ich mich als Gast in einer fremden Gesellschaft genauso verhalten kann wie zu Hause. Natürlich wird jede Gesellschaft nachsichtig sein mit Fremden, darf aber auch mit der Lern- und Anpassungsfähigkeit ihrer Gäste rechnen (das sind Banalitäten, die einem Reiseführer des 19. Jahrhunderts entnommen sein könnten).
Was Religionen betrifft wird jede Gesellschaft mittelfristig lernen müssen, dass Religion Privatsache ist. Religion ist die Innenwelt, die jeder Mensch Zeit seines Lebens in seinem Herzen mit sich herumträgt. Alle Gesellschaften stellen je nach Bedarf Orte und Einrichtungen zur Verfügung, wie sie von Angehörigen der verschiedenen Religionen benötigt werden. Das hat natürlich seine Grenzen. Z.B. sollte man sich global darauf verständigen, einer Religion keine Kultstätten zur Verfügung zu stellen, deren Gläubige einmal im Jahr einem blutdürstigen Gott ein Menschenopfer darbringen. Religionen müssen ihre Praxis so gestalten, dass damit die Freiheit anderer nicht eingeschränkt wird.
Man muss unterscheiden zwischen den Gepflogenheiten innerhalb einer Gesellschaft und den Religionen, die ihre Bürger praktizieren. Beides ist selten ident. In jeder Gesellschaft gibt es tradiertes Brauchtum mit oft nur sehr rudimentärem religiösen Charakter, das hauptsächlich auf Imitation und volkstümlicher Gewohnheit basiert. Würde man z.B. Kirchgänger in christlichen Gesellschaften über religionsphilosophisch anspruchsvollere Themen wie die Menschwerdung Gottes oder die Dreifaltigkeit befragen, wäre man wahrscheinlich erstaunt, wie oberflächlich sich die meisten Christen mit ihrem Glauben auseinandersetzen. Ich nehme an, das gilt für so manche andere Religion auch. Einfache volkstümliche Vorstellungen überwiegen, aber das macht diese Ansichten nicht weniger relevant.
Der Gesamtcharakter einer Gesellschaft resultiert aus dem Sammelsurium der Gewohnheiten ihrer Mitglieder. Hätte jedes Mitglied völlig eigenständige Gewohnheiten, ergäbe das ein ziemlich chaotisches Gesamtbild. Zum Glück ist das nicht der Fall, und die meisten Gesellschaften präsentieren sich, zumindest zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten, als durchaus stimmiges und mitunter sogar harmonisches und wohltönendes Ensemble, das ausländische Besucher anlockt und in Entzücken versetzt. Solche Gesellschaften sind das Produkt jahrhundertelangen Zusammenwirkens, das es verdient, bewahrt und gepflegt zu werden.
Jede Gesellschaft hat das Recht, ihren Bürgern im Rahmen der Gesetze gewisse Verhaltensnormen vorzugeben, solange dieses Recht - wie es so schön heißt - vom Volk ausgeht und nicht dem Volk oktroyiert wird. Bis vor nicht allzu langer Zeit redete man den verschiedenen Sozietäten der Welt bei dieser Rechtsfindung nichts drein. Seit der Deklarationen der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) ist das anders geworden. Immer mehr Gesellschaften bekennen sich zu diesen Grundrechten. Sie stecken gewissermaßen den Minimalrahmen ab, in dem sich ein Rechtssystem bewegen muss. Damit sind wir immerhin auf dem Weg zu einem globalen Konsens, was die minimalen Rechte jedes Mitglieds einer Gesellschaft betrifft.
Zur Wahrung der Symmetrie könnte es hilfreich sein, allmählich auch einen Katalog der minimalen Pflichten jedes Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, der er angehören will, zusammen zu stellen. Beide Auflistungen, die der Rechte und die der Pflichten, sollten dann als Referenzbasis herangezogen werden von allen Gesellschaften weltweit, um dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (in jeweils lokal ausgeprägter Form) zum Durchbruch zu verhelfen gegenüber despotischer Willkür auf der einen und regelloser Anarchie auf der anderen Seite.
Es muss sich aber auch in Zukunft, auch wenn so ein globaler Rahmen zugrunde gelegt wird, jede Gesellschaft selbst ihr eigenes spezielles Rechtssystem geben. Es hätte keinen Sinn, von außen ein Rechtssystem aufzuzwingen, so gut das auch immer gemeint sein mag. Was in der Deklaration einzelnen Individuen zugesprochen wird, nämlich das Recht auf Selbstbestimmung, muss man auch Gesellschaften zugestehen. Keine Gesellschaft darf der Versuchung nachgeben, andere Gesellschaften über denselben (eigenen) Leisten zu schlagen. Es liegt in der Natur der Menschen und ist auch wünschenswert, dass jede Gesellschaft eine hohe Meinung von sich selbst hat. Das darf aber nie dazu führen, aus lauter Begeisterung für das eigene Wertsystem es anderen Gesellschaften zwangsweise überzustülpen.
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Religion
see also: Longing for a safe haven (8/24)