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Wer wird das nächste Opfer sein?

Ich bin Jahrgang 53. Bis tief in die 60er-Jahre hinein nahm ich als Kind die bestehenden Verhältnisse unkritisch zur Kenntnis. Von meinen Eltern erfuhr ich keine starke Prägung. Bei Kriegsende im Frühjahr 45 war meine Mutter gerade 17, und mein Vater 17½. Im Keller meines Elternhauses steht heute noch 'Mein Kampf', mit handschriftlicher Widmung von ihm an sie. Das Geschenk war klug gewählt, denn der Vater meiner Mutter war begeisterter Nationalsozialist, and sie als Älteste von 4 Kindern bewahrt ihm bis zum heutigen Tag ein ehrendes Andenken.
Manchmal wenn ich zu Besuch bin holt sie eine Schachtel aus einem mir nicht bekannten Versteck, entnimmt ihr Briefe des lang Verstorbenen, blättert darin und schüttelt immer wieder den Kopf darüber, welch für sie aus heutiger Sicht haarsträubender Unsinn da nicht steht. Bisher hat sie uns daraus noch nie vorgelesen, geschweige denn uns selbst lesen lassen. Wir durften nur am Tisch dabeisitzen, ihr eine Weile zusehen, und nach ein paar Minuten wurde die Schachtel wieder zugemacht und weggeräumt.
Ich habe diesen Großvater als feinsinnigen, gebildeten und humorvollen Menschen in Erinnerung. Er war ein guter Zeichner, spielte Cello, und hatte großes Talent, unterhaltsam zu schreiben. Er liebte es, spöttische Bemerkungen zu machen und seine Umgebung bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Schaufel zu nehmen. Sein Witz war geistreich und nicht verletzend oder herabwürdigend, soweit ich mich erinnere. Besonders gerne erzählte er Judenwitze; die waren durchwegs lustig, niemals bös. Man konnte auch als Kind darüber lachen.
Niemand hat damals ernstfach den Versuch unternommen, mir als Kind zu erklären, was es denn so Besonderes auf sich hatte mit diesen Juden. So wie das Wort in meiner Umgebung gebraucht wurde, signalisierte es etwas Belastendes, etwas womit man sich lieber nicht näher befassen wollte, was höchsten für schnelle Witze taugte, an deren Ende harmloses Lachen stand. Natürlich wussten auch wir Kinder, was im Krieg geschehen war. Man hatte uns davon erzählt. Mit sprachlosem Grauen nahmen wir zur Kenntnis, mit welch krankhafter Verbissenheit Millionen Juden verfolgt, eingesperrt und getötet worden waren.
Natürlich haben wir uns gefragt, warum man sie denn so hasste und was denn gerade diese so Hassenswertes an sich gehabt hätten. Gerade das kindliche Denken bettelt ja immer um eine Erklärung, fragt immer "Warum?". Allein, von den Erwachsenen war damals wie heute kaum eine glaubwürdige Erklärung zu bekommen. 'Unrein' wären die Juden, so argumentierten die historischen Betreiber ihrer Vernichtung, man müsse die 'Deutsche Rasse rein erhalten' und sie von 'Verunreinigungen' befreien.
Worin nun aber diese 'Unreinheit' bestehen sollte, war nicht nur einem kindlichen Gemüt schwer nachzuvollziehen, zumal sich gerade unter ihnen viele Kulturschaffende befanden, deren Werke allgemein bewundert wurden. Hochgescheite, sehr erfolgreiche und beliebte Leute waren darunter. Bis herauf in meine jungen Erwachsenenjahre hatte ich keine Ahnung dass Leute wie Karl Farkas, Hermann Leopoldi und Gerhard Bronner Juden waren. Ich kam auch überhaupt nicht auf die Idee, die in den 80er-Jahren von Oscar Bronner neu gegründete Tageszeitung 'Der Standard', dessen Abonnent ich seit über 20 Jahren bin, mit dem Judentum in Verbindung zu bringen.
Das Judentum war für mich eine Religion wie viele andere auch, und Religion war Privatsache und wurde schon lange von kaum jemandem mehr wie eine Uniform zur Schau gestellt. Erst in den letzten Jahren nehme ich Juden als solche im Stadtbild wahr, kenntlich an ihren merkwürdigen schwarzen Mänteln und irgendwie lächerlich wirkenden schwarzen Hüten. Scheinbar wandelt sich unsere Gesellschaft allmählich wieder zu einer, in der Religion nicht mehr nur Privatsache ist. Dabei sind es in viel größerer Zahl die Muslime, die ihre religiöse Identität durch äußere Zeichen zur Schau stellen.
Warum hassten die Nationalsozialisten die Juden? Was um Himmels Willen trieb sie nur zu einer solch unvorstellbaren Raserei? Muss man nicht massive Gründe vermuten hinter einem derart extremen, geradezu krankhaft auffälligen Verhalten? Ein Verhalten, dass uns selbst heute noch, 7 Jahrzehnte danach, sprachlos und ratlos macht? Manchmal hört man auf die Frage die Antwort, Adolf Hitler wäre ein Psychopath gewesen, besessen von der fixen Idee, 'diese Juden' vernichten zu müssen. Warum aber fand er so viele willfährige Helfer und Handlanger? Auch lauter Psychopathen?
Mir genügt diese Erklärung nicht. Psychopathen gibt es viele, doch keiner fand so leicht Gefolgsleute wie er. Dazu brauchte es auch eine Masse, die grölend "Jawoll!" rief und auch gleich bereit war, zur - natürlich illegalen - Tat zu schreiten. In gewissem Sinne war Hitler selbst wie einer aus dieser Masse, er schwamm auf ihr wie der Schaum auf dem Bier und wäre nichts gewesen ohne sie. Die Masse in ihrer übergriffigen Wut fühlte sich zutiefst im Recht und war überzeugt zu tun, was getan werden musste, selbst als schon die Bücher und Synagogen brannten, und wohl auch noch immer als es daran ging, Juden leibhaftig zu eliminieren. Warum? Warum hasste die Masse 'die Juden'? Welches provozierende Feindbild witterte sie?
Den ersten Versuch einer Antwort reimte ich mir im Religionsunterricht zusammen. Ich nahm am Vortrag unseres Katecheten immer regen Anteil. Die Geschichten aus der Bibel waren neu für mich und daher ziemlich spannend, denn meine Eltern besuchten mit mir die Messe nie. Ich war ziemlich erschüttert, den braven guten Jesus zum Tod verurteilt zu sehen, und ich registrierte sehr wohl, dass Pilatus, der römische Statthalter, dem die Gerichtsbarkeit in letzter Instanz oblag, diesen Tod nicht wollte, wohl aber das Volk (also 'die Juden'), das da rief: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27:25).
Die Message für mich als kleinen Christen in Ausbildung: Die Juden haben unseren armen Jesus auf dem Gewissen. Und so hörten das Generationen von Christen in der Schule und von der Kanzel herab seit dem 4. Jahrhundert; zahlreiche Judenverfolgungen durch Christen waren die Folge. Zumindest dürfte diese Stelle im Neuen Testament immer wieder eine bequeme Begründung geliefert haben. Auch für die Nationalsozialisten? Für die wohl weniger, aber die Judenverfolgung stieß durch diese Assoziation zumindest bei einem Teil der Masse auf Akzeptanz, gerade in einem (damals noch) erzkatholischen Österreich.
Für mein kindliches Gemüt, noch wenig bewandert in religionsphilosophischen Betrachtungen, war das eine erste einigermaßen nachvollziehbare Erklärung für das ansonsten völlig Unfassbare. Eigentlich blieb es bis zum heutigen Tag die einzige, wenn man einmal absieht vom Reinheitswahn der Nationalsozialisten, der mir als Kind schon suspekt war. Schon als Kind konnte ich in 'Rassenreinheit' keinen Wert an sich entdecken. Ließen sich also die Massen des 'Dritten Reiches' so leicht gegen 'die Juden' mobilisieren - wegen eines seit Jahrhunderten gepredigten Satzes aus dem Neuen Testament?
Mir genügt auch diese Erklärung nicht. Hitler und so manchen seiner Entourage lag an Richard Wagner und Walhalla wesentlich mehr als an der Heiligen Dreifaltigkeit. Außerdem waren die Religionen im Europa des 20. Jahrhunderts längst auf dem Rückzug ins Private. Viele der jetzt plötzlich verfolgten Juden nahmen sich selbst erst unter dem Eindruck dieser Verfolgung wieder als Juden wahr, praktizierten kaum mehr ihre Religion oder waren sogar zum Christentum übergetreten, was sie aber nicht vor Verfolgung schützte. Den Verfolgern ging es gar nicht um Religion, sondern um Zugehörigkeit zu einem 'jüdischen Volk', das sie genetisch definierten.
Sie unterstellten diesem 'Volk' eine Reihe negativer erblicher Eigenschaften, mit negativen Auswirkungen auf die braven und tüchtigen 'Deutschen'. Die Probleme und Nöte der 'Deutschen', so ihre Überzeugung, ließen sich lösen durch Beseitigung und Entfernung der 'Juden', und dazu war bald jedes Mittel recht. Wie konnte es aber sein, dass sich gebildete und intelligente Leute, die unter diesen Deutschen ja reichlich vertreten waren, zu so etwas hinreißen ließen? Was führten die Judenverfolger an als Begründung und Beweis für ihre Beschuldigungen und Mutmaßungen?
Die Nationalsozialisten führten in ihrem Parteinamen nicht ohne Grund das Wort 'Arbeiter'. Sie profilierten sich und brachten sich in Stellung als Fürsprecher des 'kleinen Mannes', der nach Weltwirtschaftskrise, Währungsverfall und Massenarbeitslosigkeit sowieso 'auf dem letzten Loch blies'. Diesem 'kleinen Mann' erzählte man jetzt etwas von den 'reichen Juden' und fand bei ihm ein offenes Ohr. Man musste auch nicht lange suchen: man stieß überall gut sichtbar auf sie. Sie waren erfolgreich im Bankgeschäft tätig, besaßen Häuser an der Wiener Ringstraße und bewegten sich leichtfüßig auf internationalem Parkett.
Sie boten eine Projektionsfläche für die Neidgefühle der verarmten Masse. Juden waren überproportional vertreten in der hohen Naturwissenschaft und in den künstlerischen Berufen. Sie waren damit auch erkennbar vor aller Augen und ihre Namen in höchstem Maße bekannt. Für geschickte Propagandisten war es ein Leichtes, ihnen die Schuld an allem und jedem unterzujubeln. Für die wirkungsvollste Triebkraft des nationalsozialistischen Judenhasses halte ich die Kluft zwischen Massenelend beim deutschen und österreichischen Kriegsverlierer und einer Vielzahl von jüdischen und ehemals jüdischen Geschäftsleuten und Bildungsbürgern, die dank internationaler Verbindungen und dank Flexibilität und Ideenreichtum besser mit der Krise zurechtkamen.
Es handelte sich also eigentlich um die Aggression der frustrierten Massen gegen eine als dünne Oberschicht wahrgenommene, leicht zu punzierende Gruppe, die im Zuge der Ausschreitungen und systematischen behördlichen Benachteiligungen und Schikanen auch tatsächlich enteignet, vertrieben und zu einem großen Teil sogar umgebracht wurde. Nicht viel anders ist es der französischen Aristokratie während der Französischen Revolution ergangen. Ich halte es für wichtig, sich diese Zusammenhänge von ihrer ökonomischen Seite her bewusst zu machen, damit klar wird, woher die Gefahr tatsächlich droht: Nicht der deutsche Nationalismus war die Gefahr, und es zogen auch nicht Juden aufgrund ihres Glaubens die Aggression auf sich.
Die eigentliche Gefahr liegt in der Konzentration des ökonomischen Reichtums auf schmale, leicht namhaft zu machende Segmente der Gesellschaft. Erreicht die Ungleichverteilung ein gewisses Ausmaß, kann die benachteiligte große Mehrheit leicht instrumentalisiert werden zur Aggression auf die begünstigte Minderheit. Wir müssen aus der Geschichte lernen. Leider sind wir jetzt, im Jahr 2015, wieder auf dem Weg zu einer gefährlichen Konstellation: Der entfesselte globale Markt spült einer kleinen Minderheit immer monströsere Reichtümer zu.
Nicht immer wissen die meist unverhofft zu Reichtum Gelangten Segensreiches und Konstruktives mit diesen Mitteln anzufangen. Der Markt braucht dringend mehr Regulierung. Die stetig wachsende Ungleichverteilung schürt Neidgefühle und lässt neue Feindbilder wie die Pilze aus der feuchten Erde hervorbrechen. 1789 fiel die Masse über den französischen Adel her, im 'Dritten Reich' über 'die Juden'. Welches Ziel wird man einer allzusehr ins Hintertreffen geratenen Masse das nächste Mal einreden?
Es gibt nur einen gangbaren Weg, Übergriffe und aus dem Ruder laufende Aggressionen zu vermeiden: man muss entschieden gegensteuern der ungleichen Verteilung des ökonomischen Reichtums. Diesbezüglich wird noch viel zu wenig getan. Die aktuellen Machthaber setzen auf Freiheit und Selbstregulation des Marktes. Da die Kluft zwischen Arm und Reich seit Jahrzehnten stetig wächst, war dieses Hoffen auf Selbstregulation wohl vergebens. Wir brauchen einen Mittelweg zwischen Freiheit und Planwirtschaft. Wir sollten ihn möglichst bald finden.
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Society as a complex system
Lehrreiche Studie: De Celles KA & Norton MI (2016) Physical and situational inequality on airplanes predicts air rage. PNAS 113: 5588-91