struwwelpeter

Heinrich Hoffmann
Die Geschichte vom bösen Friedrich

Sind die Menschen schlecht?

"Die Menschen sind schlecht / Sie denken an sich / Nur ich denk an mich" ist ein Kanon, der in mehreren Liederbüchern (zurück bis ins Jahr 1959) wiedergegeben wird. Offenbar ist die Herkunft des Textes nicht mehr bekannt. Ein Volkslied also. Schon ziemlich lange scheint man über diese kleine Paradoxie selbstironisch zu schmunzeln. Auf die Schaufel genommen wird unser Egoismus, der uns immer nur bei anderen stört, nie bei uns selbst.
Das ist ganz normal, denn Egoisten sind wir alle von Natur aus. Ändern sich die Randbedingungen unseres Daseins zu unserem Nachteil, so protestieren wir, oft sogar lauthals. Erst wenn man uns mit guten Argumenten überzeugt, schlucken wir auch so manche bittere Pille. Stellt sich aber unverhofft eine Wendung zum Besseren ein, freuen wir uns stillschweigend über den unerwarteten Gewinn und fragen nicht lange, wie wir dazu kommen.
Es hat sich noch niemand über eine Gehaltserhöhung beschwert, doch viele gehen bei Gehaltskürzungen auf die Barrikaden, auch wenn sie sowieso mehr verdienen als sie zum Leben brauchen. Aber so ist der Mensch: Du gibst ihm mehr, und er sagt nichts; du nimmst ihm etwas weg, und er schreit. Dabei sind wir alle mit nichts auf die Welt gekommen und werden sie genauso wieder verlassen.
Eine arbeitsteilige Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn wir bereit sind, auch die Wünsche und Bedürfnisse unserer Mitmenschen in Rechnung zu stellen, nicht nur unsere eigenen. Damit das möglich ist, müssen wir regelmäßig erfahren, wie es unseren Mitmenschen geht. Die Asymmetrie unserer Reaktion auf Entzug und Zuwendung - Geschrei bei ersterem, Schweigen bei letzterer - stellt dabei ein gewisses Problem dar.
Gesellschaften, denen es von Jahr zu Jahr immer besser geht, produzieren keine auffälligen Nebengeräusche. Alles läuft wie am Schnürchen, niemand regt sich auf, auf den Straßen ist es ruhig, und sonntags, wenn man durch die saturierten Wohnsiedlungen wandelt, hört man höchstens das "Blubbern dicker Soßen" (© Franz Josef Degenhardt). Das könnte man aber auch als das bedrohliche Ticken einer Zeitbombe verstehen, denn unmerklich für den naiven Beobachter und Lauscher rutscht die Latte immer höher, die das Sozialleistungssystem überspringen muss, um die Leute bei Laune zu halten.
Denn irgendwann sind die Grenzen des Wachstums erreicht und der bereits zur lieben Gewohnheit gewordene Zuwachs an Reichtum und Wohlstand bleibt aus. Dann regen sich erste Stimmen des Unmuts und der Staat beginnt nervös an den Stellschrauben des Systems zu drehen, um weiter den Deckel drauf zu halten. Aber natürlich kann keine Gesellschaft der Welt in alle Ewigkeit mit allzeit bequemen Zuwächsen und alljährlich neuen Belohnungen die nimmersatten Mäuler stopfen.
Einmal wird in jedem noch so prosperierenden Sozialsystem der Punkt erreicht, an dem man erkennen muss: Mehr gibt's nicht. Höher geht's nicht. Natürlich sollten sie satt werden, die Hungernden; doch zumindest in der westlichen Welt gibt es inzwischen mehr Übergewichtige als Hungernde. Offenbar geschieht uns inzwischen schon zuviel des Guten, und die meisten merken es nicht einmal. Wo ist die Führung, die es wagt, das den Geführten zu sagen? Es gibt sie nicht, denn die Führer wissen sehr wohl, dass sie nur wegen guter Nachrichten gewählt wurden, nicht wegen schlechter.
Führt uns also die Demokratie in die "Wohlstandsfalle"? Kann man Bürger im Rahmen eines demokratischen Prozesses entwöhnen? Man könnte, würde man sie ernst nehmen und endlich darauf verzichten, sie mit Oberflächlichkeiten abzufüttern und ruhig zu stellen. Bürger sind und bleiben Egoisten, solange man nichts von ihnen fordert. Die Gesellschaft aber darf und muss ihre Bürger fordern. Kein vernünftiger Mensch wird berechtigte und gut begründbare Forderungen ignorieren. Es ist menschlich, sich für Menschen und ihre Bedürfnisse zu interessieren.
Am Ende der Wohlstandsspirale stehen Langeweile, Einsamkeit und Enttäuschung. Die Gesellschaft muss ihre Mitglieder dort rausholen. Das beginnt mit der Verweigerung des unreflektierten Abfütterns. Man sollte sich nicht fürchten vor Unmutsäußerungen, sondern man sollte im Gegenteil diese provozieren und für alle hörbar machen. Man muss die Menschen wieder dazu bringen, sich aktiver am Zusammenleben zu beteiligen. Die Menschen müssen spüren und erleben, dass es Sinn hat, sich zu äußern, dass es zu Konsequenzen führt, wenn man seine Meinung sagt.
Die Menschen sind schlecht, wenn man sie sich selbst überlässt. Gut ist nur, wer das Gemeinwohl über das eigene stellt. Sich dazu aufzuraffen, fällt umso schwerer, je nebelhafter uns diese Gemeinschaft erscheint. Wir wollen wissen, für wen wir uns einsetzen. Uns genügt ein abstrakter Staat nicht. Die Gemeinschaft muss für uns erkennbar sein, muss ein Gesicht oder besser noch: viele Gesichter haben. Und sie muss glaubwürdig, mehr sogar: liebenswürdig sein. Wir alle sind aufgerufen, eine solche Gesellschaft zu bilden.
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Society as a complex system