Paradoxe Intervention
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Als
man 1945 fassungslos vor den Trümmern der Menschlichkeit stand -
Leichenberge in Konzentrationslagern; zwei durch Atombomben in Schutt
und Asche gelegte Großstädte - sah man sich genötigt, die Notbremse zu
ziehen. Man begriff, dass man diesmal ganz neu beginnen musste. Nie
wieder sollte der Mensch an sich zur Disposition gestellt werden. In
bemerkenswerter Eintracht verständigte man sich auf Grundrechte, die
jedem Individuum garantiert werden mussten, egal woher es stammte,
woran es glaubte, welcher Ansicht es war, und letztlich sogar
unabhängig davon, ob ein Krieg gewonnen oder verloren wurde.
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Es
war ein weltweiter Entschluss aus der Not heraus, aus der Verzweiflung.
Im Prinzip hat dieser neue Ansatz auch funktioniert. Während nur 21
Jahre nach dem 'Großen Krieg' schon der nächste begann, konnte ein
weiterer seit 77 Jahren verhindert werden. Die Angst vor einem
'nuklearen Holocaust' spielte dabei eine Rolle, aber auch die radikale
Besinnung auf das individuell Menschliche, das nun von sich aus als
schützenswert eingestuft war.
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Was
man bisher nicht ausreichend berücksichtigen konnte war die äußerst
komplexe Verfasstheit des spezifisch Menschlichen. Will man dem
'Menschen an sich' gerecht werden, muss man seine soziale Vernetzung
berücksichtigen. Die 'Allgemeine Erklärung der Menschenrechte'
widmet sich seit 1948 in 30 Artikeln dem Individuum Mensch. Ein
ungleich schwierigeres Unterfangen wäre es, sich analog mit ganzen
Populationen zu befassen.
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Zwar
nehmen viele - wenn nicht alle - dieser 30 Artikel Bezug auf den
sozialen Konnex, aber nirgends in diesem Regelwerk werden der
jeweiligen Entität, der jeder Mensch qua definitionem
angehört, Rechte zugesprochen. Damit fehlt dieser ehrenwerten Sammlung
eigentlich nach wie vor der Boden unter den Füßen. Die menschlichen
Populationen lässt man sozusagen links liegen. Fast scheint es so, als
hüte man sich, an ihnen auch nur anzustreifen.
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Haben
Sie schon einmal den Begriff 'Völkerrecht' wahrgenommen? Wenn, dann
vermutlich in einem eher dubiosen Konnex. Auch der Ausdruck 'Nation'
erfreut sich neulich keiner guten Presse. Sich einem Volk oder einer
Nation zugehörig zu fühlen, sollte man lieber für sich behalten, wenn
man weiter ernst genommen werden will. Warum eigentlich? Vielleicht ist
es die Scheu vor dem allzu Komplexen, dem Unverstandenen.
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Wir
werden unsere Probleme nicht lösen können, wenn wir weiter nur mit
'Menschenrechten' operieren, ohne das eigentlich Menschliche
einzubeziehen: unsere soziale Natur. Humane Sozietäten sind die
eigentliche Ausprägung unserer Art. Wir kommen auf dieser Welt nun
einmal genauso vor. Es gibt uns praktisch nicht als 'Einzelexemplare',
immer nur in Gesellschaften vielgestaltiger Art.
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Ist
schon ein einzelner Mensch schwer genug zu verstehen (wahrscheinlich
nie vollständig), so gilt das umso mehr für die komplex-dynamischen
Systeme, die er ausbildet. Wir sollten uns aber gerade mit diesen
besonders sorgfältig befassen, denn die Probleme in dieser Welt
entstehen meistens aus Konflikten zwischen verschiedenen
Gesellschaften. Ich wage zu behaupten, dass man auch mit
menschlichen Gesellschaften umgehen kann, nicht nur mit einzelnen
Menschen.
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Man wird es sogar tun müssen,
will man nach 77 Jahren nicht doch noch in die nächste kriegerische
Katastrophe stolpern. Man sollte endlich akzeptieren, dass es Russen,
Franzosen, Japaner und Chinesen (und so weiter) gibt, und dass sie alle
auf eine bestimmte Weise 'ticken'. Ich habe schon den Vergleich mit dem
Bienenstaat bemüht. Kein Imker käme
auf die Idee bei Problemen mit der Varroa-Milbe oder mit
Neonicotinoiden einzelne Bienen zu behandeln. Natürlich denkt er in der
Dimension ganzer Stöcke.
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Auch für die Spezies Mensch
kennt man seit Jahrtausenden den Umgang auf dieser höheren Ebene. Man
nennt das Diplomatie. Angesichts der schier übermenschlichen
Herausforderung, die das Studium hochkomplexer dynamischer Systeme in
Interaktion miteinander darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass
immer wieder Fehler gemacht werden und Entwicklungen aus dem Ruder
laufen. Dennoch sollte man den Mut nicht verlieren. Der Mensch ist
nicht nur komplex, er ist auch klug und lernfähig.
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Schlag nach bei Viktor Frankl
und bei Paul Watzlawick. Ihnen wird die Erfindung der 'Paradoxen
Intervention' zugeschrieben. Sie ermöglicht das Auflösen verfahrener
Situationen im sozialen Setting. Auch Alexander S. Neill könnte man
anführen, der so manchem seiner Zöglinge Unarten austrieb, indem er sie
belohnte statt sie zu bestrafen. In diesem Sinne ist auch mein Vorschlag zu verstehen, die NATO aufzulösen, um den Ukraine-Krieg zu beenden.
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