Vom Toben hübscher Mädchen durch der Nacht

Es muss in den frühen Nullerjahren gewesen sein. Zu Hause hatte ich noch kein Internet und - man lese und staune - auch noch keinen Kühlschrank. Einer dieser beiden Umstände muss mich zu einer abendlichen Kurzvisite des Instituts genötigt haben. Entweder ging es dabei um eine E-mail oder um frisches Eis für die Styroporkiste. Damals war ich noch jung und unbekümmert genug für solche Provisorien.
Als ich auf dem Rad den Gürtel überquerte, beschlich mich das Gefühl, langsam alt zu werden. Ausgelöst wurde es vom Anblick einer Gruppe halbwüchsiger Mädchen, die ausgelassen auf dem Gehsteig dahinliefen. Damals verstand ich dieses spontane Gefühl nicht und interpretierte es - etwas bekümmert - als Anzeichen beginnender Senilität. Intuitiv aber spürte ich, dass es mehr war als nur das.
Es sind seitdem gut 20 Jahre ins Land gezogen, und dennoch weiß ich noch die Worte, die mir durch den Kopf gingen: "Dürfen die da einfach so herumlaufen zu dieser nachtschlafenen Zeit? Wer erlaubt ihnen das? Wer passt auf sie auf? Sollten die nicht etwas ordentlicher und stiller sein? Etwas züchtiger angezogen?"
Damals schob ich den seltsamen Gedanken zur Seite. Dort blieb er aber nicht. Über die Jahre kehrte er immer wieder. In diesen kurzen Momenten meiner nächtlichen Fahrt durch die Gürtelbögen hatte sich unversehens ein literarischer Topos bei mir eingenistet und ein zähes Eigenleben begonnen. Eigentlich wusste ich sofort, dass hier eine bessere Erklärung Not tat, nur fiel mir keine gescheite ein.
Und heute? Heute bin ich um ein paar Gedankengänge gescheiter. Beauty & attraction hatten es mir in diesen Jahren angetan. Es gelang mir, einige dieser Überlegungen zu einem (immer nur vorläufigen) Abschluss zu bringen. Ein hartnäckiger Rest bleibt bis zum heutigen Tag unaufgearbeitet. Wie soll man sich verhalten, wenn in einem sozialen Kontext buchstäblich 'etwas' über den Weg läuft, was einen auffahren lässt wie der Misston in einem Musikstück?
Es hatte nichts mit Senilität zu tun. Es ging um Schlüsselreize und Rollenbilder. Für einen Moment war mir aufgefallen, dass etwas zur falschen Zeit am falschen Ort den Horizont meiner Wahrnehmung durchbrach. Ich war durchaus im Recht, die Fragen zu stellen, die mir durch den Kopf gingen, hatte aber weder den Mut noch das Format, es öffentlich zu tun. Heute gebräche es mir immer noch an beiden, aber inzwischen wüsste ich, worum es geht.
Unsere Gesellschaft ist bunt und besteht aus vielen Schichten und Gruppen. Als soziale Wesen kommen wir nicht umhin, uns in ihr zu verorten. Meist geschieht das unbewusst und mühelos, ohne eigenes Dazutun. Ein Kind kann nichts dafür, ein Kind zu sein. Auch ich bin nicht absichtlich alt geworden. Es ist mir so passiert. Und dass hübsche Mädchen die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts wecken, hat tiefe biologische und soziologische Wurzeln.
Von allen Lebewesen sind wir Meschen ganz besonders geschickt darin, unsere biologisch grundgelegten Neigungen zu überformen. Kultur und Tradition spielen bei uns die erste Geige, nicht die rohe Biologie. Heute weiß ich und kann auch benennen, welche Vorstellung mich seit damals beunruhigt und meinen inneren Kommentar so dauerhaft in mir verankert hat. Es geht um den in unserer Gesellschaft schleichend aber stetig voranschreitenden Rollenverlust diverser gesellschaftlicher Schichten und Gruppen. Von Natur aus mächtige Schlüsselreize werden scheinbar bedenkenlos einfach sich selbst überlassen.
Fast könnte man den Eindruck haben, irgendwann in jüngerer Vergangenheit wäre diffus aber kollektiv der Entschluss gefallen: weg mit den alten Regeln! Mag sein, dass es die verstörende und entmutigende Erfahrung zweier desaströser Weltkriege war, die uns diesen radikalen Weg einschlagen ließ. Glauben wir wirklich, damit ähnlichen Katastrophen vorzubeugen? Das wäre wohl ein recht naiver Glaube. Man kann Probleme nicht lösen, indem man die größte Stärke unserer Art vernachlässigt. Im Gegenteil: wir sollten uns nach Kräften um die gesunde Verfasstheit unserer Gesellschaft bemühen.
Alle Gesellschaften brauchen eine Struktur. Ich bin zwar kein Soziologe, aber gerade als Biochemiker weiß ich, was komplexe dynamische Systeme sind (Ilja Prigoschin, dissipative Strukturen, Nobelpreis 1977). Die Mitglieder einer großen Gesellschaft (eines Staates) interagieren miteinander nicht viel anders als die Millionen Moleküle in einer lebenden Zelle. Unweigerlich bilden sich Zyklen und Netzwerke, Prozesse laufen wie Wellen durchs Kollektiv, Muster entstehen und vergehen. Eines dieser Muster in humanen Gesellschaften nennen wir 'Krieg'. Allmählich könnten wir gelernt haben, wie es entsteht und wie man es verhindert.
In einem komplexen dynamischen System hängt alles miteinander zusammen. Wenn wir es beherrschen wollen, müssen wir es aufmerksam studieren. Es liegt an uns, ihm Struktur zu geben. Das beginnt im Kleinen und setzt sich ins Große fort. Es ist eben nicht egal, wie wir uns anziehen, wie wir unser Essen zu uns nehmen, wie wir sprechen, wie wir uns fortbewegen. Wenn uns das alles egal wird, wird das komplexe Geschehen von sich aus Strukturen entwickeln; darunter können auch ziemlich hässliche sein. Wenn sie erst einmal im Entstehen sind, kann man nur noch schwer steuernd eingreifen.
Will ich damit sagen, man sollte "den Anfängen wehren" und es hübschen Mädchen verbieten, nachts unbeaufsichtigt über Gehsteige zu toben? Man sollte Heranwachsenden vermitteln, was man tut und was man lieber sein lässt. Mir scheint, dass heutzutage immer weniger zur Sorge Verpflichtete bereit bzw. überhaupt in der Lage sind, dieser Pflicht nachzukommen. Ihren Einfluss auf den Nachwuchs gestalten sie mehr oder weniger spontan und orientieren sich dabei an Strömungen in der Gesellschaft, die ihnen beachtenswert erscheinen.
Auf diese Strömungen kommt es an. Für die können sie nichts. Sie finden sie so vor. Wir alle zusammen sind für sie verantwortlich. Jede/r  von uns hat in seinem/ihrem Leben ein bisschen dazu beigetragen. Leider neigen wir dazu, uns kaum für Dinge zu interessieren, die scheinbar wie von Wunderhand von selbst geschehen. Sie geschehen nicht 'von selbst'. Sie sind das Produkt Jahrtausende langer Übung und Erfahrung. Auch was uns heute als nebensächlich erscheint und niemand auf die Idee käme, zu formulieren oder gar aufzuschreiben, gehört zu diesem Schatz. Man kann ihn nur durch das gelebte Beispiel erhalten und weitergeben.
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Education / Erziehung (2005-14, in German & English)
Beauty & attraction (2004-10, in English)
Freedom & society (2001 - 24, in German & English)