Über die letzten Dinge

Wir haben im Leben alle dasselbe Ziel: Wir wollen glücklich und zufrieden sein. Und alles, was wir unternehmen, soll irgendwie, auf mehr oder weniger direkte Weise, der Erreichung dieses Zieles dienen. So, oder so ähnlich, lautet das Konzept, das jeder am Anfang seines Lebens hat - so selbstverständlich, dass es die wenigsten für nötig halten, sich darüber klar zu werden (geschweige denn, darüber zu reden). Später verlieren viele dieses - vielleicht auch unbewusste - Ziel aus den Augen und finden sich damit ab, dass sie es wohl nie ganz erreichen werden. Sie lernen, diesen Zustand einer latenten Enttäuschung zu ertragen und warten, mit mehr oder weniger Anstand, auf das Ende.
Glücklich und zufrieden wollen wir sein, und wenn uns dabei etwas in die Quere kommt, schimpfen wir darüber und hadern mit dem Schicksal. Es sollte sich jeder einmal die Frage stellen, was alles geschehen müsste, damit wir glücklich sind. Mache doch jeder einmal für sich das Gedanken- experiment, es würde alles gelingen, was wir uns vornehmen.
Wünschen Sie sich eine interessante Arbeit, die Ihnen leicht von der Hand geht und Ihnen ein schönes Einkommen beschert?

Sie sollen sie haben!

Sie hätten gerne eine helle geräumige Wohnung in ruhiger Lage, mit guter Verkehrsanbindung, in der Nähe Ihres Arbeitsplatzes?

Warum nicht?

Und Sie träumen von einem liebevollen Lebenspartner und wollen mit ihm sogar ein paar nette Kinder in die Welt setzen?

Gute Idee!
Unternehmen Sie einmal die Anstrengung, sich das alles in allen Einzelheiten auszumalen. Lehnen Sie sich zurück, richten Sie einen verträumten Blick in unbestimmte Fernen, und träumen Sie sich einmal alles so zurecht, wie Sie sich das schon immer gewünscht haben. Das Mädchen aus der Klasse über Ihnen, der nette Junge aus der Nachbarschaft - das hätte es halt damals sein sollen... Überlassen Sie sich Ihrem Traum und denken Sie sich all das dazu, was nie so richtig geklappt hat.

Wären Sie dann glücklich und zufrieden?

Sie seufzen?

Sie wissen es nicht.
Nein, natürlich wissen Sie es nicht. Aber Sie ahnen schon: es sind nicht diese Äußerlichkeiten, auf die es ankommt. Bei all diesen Überlegungen stellen sich Ihnen immer wieder diese unausweichlichen Fragen: Wer bin ich wirklich? Warum tue ich all das, wonach es mich verlangt? Und warum unterlasse ich so vieles, wonach es mich eigentlich verlangte? Woher kommen meine Wünsche und meine Träume, und warum wünscht sich der eine dies, der andere das? Wenn Sie all das Revue passieren lassen, was Sie sich wünschen, müssen Sie dann nicht zugeben, dass all diese Zustände, Ereignisse, Erlebnisse zwar durchaus eintreten, stattfinden und Wirklichkeit werden könnten; dass sie aber unweigerlich auch wieder vorübergehen würden?
Wenn Sie jung sind, gesund und erfolgreich, werden Sie vielleicht wenig Lust verspüren, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht hegen Sie jetzt sogar den Verdacht, ich möchte Ihnen den Spaß verderben. Seien Sie beruhigt: Ich gönne Ihnen Ihre Freude am Leben, so wie Sie sie auch mir gönnen (Sie haben doch Freude am Leben?). Es soll keiner ein Leben lang ernst einherschreiten und auf Schritt und Tritt stets der Vergänglichkeit alles Irdischen eingedenk sein. Das wäre gerade so als würde man, aus lauter Angst, man könnte bei einem Unfall eine Hand verlieren, sie sich prophylaktisch gleich selbst abhacken.
Wir Menschen haben den seltsamen Drang, uns auf alles einen Reim zu machen. Wir wollen verstehen, warum die Dinge so sind wie sie sind. Eine Zeit lang lassen wir uns alles Mögliche einreden und glauben bereitwillig alles, was einigermaßen plausibel klingt. Aber mit der Zeit steigen unsere Ansprüche. Ein Kind mag sich noch zufrieden geben mit ein paar oberflächlichen Erklärungen, weil es in seinem kurzen Leben erst wenige Erklärungen gesammelt hat, mit denen es eine neue Erklärung in Einklang bringen muss. Aber mit der Zeit häufen wir immer mehr Antworten an, und früher oder später stoßen wir auf Widersprüche. Dann müssen wir selbst entscheiden, was richtig ist. Und immer öfter müssen wir uns aufraffen und widersprechen. Und wir müssen es uns gefallen lassen, dass andere unsere Meinung für falsch halten, ebenso wie wir die Meinung mancher Leute für falsch halten. In diesem Prozess machen wir die Erfahrung, dass unsere persönliche Meinung für uns große Bedeutung hat. Wir können zu ihr stehen, können sie verteidigen wie einen Besitz, wie Haus und Hof, und wir können sie revidieren, wenn Argumente auftauchen, die uns einleuchten.
Wir haben auch versucht, uns auf die letzten Dinge einen Reim zu machen, und wir sind dabei auf sehr unterschiedliche Antworten gestoßen. Wenn wir für uns allein solche Überlegungen anstellen, bringt das nicht viel. Größer ist die Wirkung, wenn wir sie zusammen mit anderen anstellen. Wir können dann überprüfen, ob wir mit unseren Gedanken allein sind, oder ob sie bei anderen Menschen in ähnlicher Form auftreten. Das Wissen, nicht allein zu sein, ist wichtig für uns. Wir haben das Bedürfnis, uns davon immer wieder zu überzeugen. Wir suchen die Gedanken anderer Menschen und sehnen uns danach, dass andere Menschen unsere Gedanken suchen. Und es ist gar nicht so leicht, die wahren Gedanken eines Menschen zu ergründen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass uns das nur selten gelingt.
Sie haben erwartet, dass hier von den letzten Dingen die Rede sein würde und wundern sich, wohin wir geraten sind. Welche Vorstellung haben denn Sie von den letzten Dingen? Glauben Sie, dass ich mich weit davon entfernt habe?

Mit den letzten Dingen beginnt man immer allein. Wir müssen uns bemühen, damit nicht allein zu bleiben, sonst haben wir unser Leben umsonst gelebt.
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