Quantentheorie und Selbstbestimmung

Hans Thoma:

Das wandernde Bächlein

(Staatliche Gemäldegalerie, Mainz)

Läßt sich unser Denken und Fühlen vollständig mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Methoden erforschen und beschreiben? In letzter Zeit wagen es immer mehr Wissenschaftler, an diese Möglichkeit zu glauben, an die "erstaunliche Hypothese", wie es Francis Crick einmal formuliert hat. So wie ein Molekül Traubenzucker durch die Angabe seiner Atome und der Verbindungen zwischen ihnen vollständig beschrieben ist, so wie ein Eiweißmolekül durch die Abfolge der Aminosäuren und die Torsionswinkel zwischen ihnen definiert ist, so könnten alle Bestandteile einer lebenden Zelle eindeutig beschrieben werden, und damit auch ein Körper, der aus Zellen aufgebaut ist.
Nehmen wir einmal an, es wäre so. Wir sind zwar immer noch weit davon entfernt, wirklich alle Bestandteile einer lebenden Zelle zu kennen, aber tun wir einmal so als wüßten wir wirklich alles. Und gehen wir noch einen Schritt weiter in diesem Gedankenexperiment, stellen wir uns vor, wir könnten alle Moleküle und auch die komplexesten Molekül-Aggregate einer Zelle künstlich herstellen, so perfekt, daß unser Produkt von einer wirklichen Zelle nicht zu unterscheiden ist. Es gibt heute kaum mehr einen Wissenschaftler, der einem solchen Produkt absprechen würde, am Leben zu sein.
Wie aber sieht es mit unseren Gedanken aus, mit unseren geistigen Leistungen? Auch ein Gehirn besteht aus Zellen; aus Zellen, die letzten Endes aus Molekülen und Atomen aufgebaut sind. Wenn es mir gelänge, zu einem bestimmten Zeitpunkt den Ort sämtlicher Atome meines Körpers (einschließlich des Gehirns) festzustellen, und wenn ich auf künstlichem Weg eine völlig idente Ansammlung von Atomen herstellen würde, sagen wir: einen Meter neben mir selbst; und wenn weiter unser Verhalten vollständig beschrieben wäre durch die detaillierte Anordnung der Atome, aus denen wir bestehen - was dann? Müßte sich dann dieser Doppelgänger nicht haargenau so wie ich selbst verhalten, wie eine perfekte Kopie, in allen Einzelheiten?
Wenn alles materiell determiniert ist, und wenn ich in 5 Minuten auf den Gedanken komme, mir ein Glas Wasser zu holen, so müßte mein Doppelgänger zum selben Zeitpunkt auf die gleiche Idee kommen, und wir würden gemeinsam in die Küche gehen. Wir würden uns beide in gleicher Weise über den jeweils anderen wundern, und wir müßten uns daran gewöhnen, in Hinkunft quasi verdoppelt durchs Leben zu gehen (eine sicher nicht leicht zu bewältigende Aufgabe).
Es gibt handfeste Gründe, nicht an ein derartiges Ausmaß an materieller Bestimmtheit zu glauben. Eine lebende Zelle ist sehr kompliziert, und ein ganzer menschlicher Körper erst recht. Selbst wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich die Position sämtlicher Moleküle und Atome ganz genau angeben könnten, so wäre damit nicht festgelegt, an welchen Positionen sie sich ein paar Sekunden später befinden werden. Alle Moleküle unseres Körpers sind dem ständigen Bombardement der Wassermoleküle ausgesetzt, in die sie eingebettet sind. Eine verläßliche Vorhersage ihres Verhaltens wäre nur dann möglich, wenn man zu einem exakten Zeitpunkt die genaue Position UND den genauen Impuls sämtlicher Mitspieler in diesem chaotischem Getümmel angeben könnte. Und genau das kann man nicht.
Sie werden jetzt vielleicht enttäuscht sein. Am Anfang hat es noch geheißen: Wir machen ein Gedankenexperiment, wir tun so, als wüßten wir alles, als könnten wir alles. Warum können wir nicht weiter so tun, als wäre alles möglich? Warum mache ich jetzt einen Rückzieher? Bin ich ein Spielverderber?
Versuchen wir es mit einem einfacheren Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Schachtel mit Tischtennisbällen gekauft. Damit gehen Sie an einen Bach, setzen einen der Bälle an einer ganz bestimmten Stelle ins Wasser und lassen ihn los. Sie sehen dem Ball eine Weile nach und beobachten, welchen Weg er nimmt. Dann setzen Sie einen zweiten Ball an genau derselben Stelle ins Wasser. Welchen Weg wird er nehmen? Ich bin sicher: Sie können 10 Bälle hintereinander auf die Reise schicken, schon nach wenigen Metern werden keine 2 denselben Weg genommen haben. Dabei ist ein Bach doch etwas viel Einfacheres als unser Körper, nicht wahr?
Und doch ist sogar schon ein kleiner Bach chaotisch genug, um sich einer exakten Vorhersage seines "Verhaltens" zu entziehen. Daher würde auch mein Doppelgänger schon nach wenigen Sekunden ein durchaus eigenständiges Verhalten an den Tag legen. Wir wären einander so ähnlich wie eineiige Zwillinge, würden aber ein jeder seiner eigenen Wege gehen. Wir verdanken das der Unmöglichkeit, Ort und Impuls eines Teilchens gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit festzustellen, also der Quantentheorie. So liefert die Quantentheorie die Grundlage für unsere einzigartige Identität und freie Selbstbestimmung.

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On the border between fiction and reality