Memory overflow II
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Wer
Informationen sammelt, hat nur dann etwas davon, wenn er sie im
richtigen Moment auch wieder abrufen kann. Wir wissen es alle aus
leidvoller Erfahrung: Die größte Sammlung von wissenschaftlichen
Arbeiten und Sonderdrucken ist wertlos, wenn sich die Papiere in
riesigen Stapeln auf dem Schreibtisch türmen, wo wir sie in der vagen
Hoffnung aufgehäuft haben, wir würden irgendwann einmal genug Zeit zum
Sortieren haben (und viele von uns haben leider nie Zeit).
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Unser
Gehirn ist ein Informationsspeicher von schier unvorstellbaren
Ausmaßen. Und unser Gehirn nimmt sich die Zeit, ob wir wollen oder
nicht - und das ist sehr gut so, denn andernfalls wäre es binnen kurzem
ein ähnlicher Saustall wie viele unserer Schreibtische. Unser Gehirn
nimmt sich regelmäßig die Freiheit, das zu machen, was es will, und
es pfeift dann - Gott sei Dank - auf unseren ‚freien Willen‘. In diesen
autonomen, nicht von uns bestimmten Zustand verfällt es immer wenn wir
schlafen und wenn wir träumen.
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Am
meisten schlafen und träumen wir, wenn wir noch ganz klein sind und
noch nicht einmal ein einziges Wort beherrschen. In keiner Phase
unseres Lebens haben wir so viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Mit
uns träumen auch die meisten Wirbeltiere, und keines von ihnen benutzt
ein unserer Sprache vergleichbares Medium. In dieser unserer frühesten
Entwicklungsphase werden die ersten Entscheidungen getroffen, die
ersten Ordner angelegt, der Grundstein für jene Informationssammlung
gelegt, die wir später unser Gedächtnis nennen.
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Diese
erste Ordnung basiert auf Gefühlen, auf Prinzipien, die wir auch später
nicht mit Worten benennen können, weil ihre Wahl seinerzeit mit Worten
noch nichts zu tun hatte. Sie wird zur unaussprechlichen Grundlage
unserer Welt, für das komplexe Bild, das wir uns im Laufe eines langen
Lebens von der Welt und von uns selbst machen.
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Im Laufe
unseres Lebens emanzipieren wir uns allmählich von unserem inneren
Ratgeber, der Nacht für Nacht für uns aufräumt und Ordnung macht: wir
träumen weniger mit fortschreitendem Alter. Parallel dazu erlangen
wir nach und nach mehr Klarheit über uns selbst. Der innere Ratgeber
muss immer weniger ‚hinter uns nachräumen‘. So sollte es zumindest sein.
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Leider funktioniert das nicht immer. Wir können ins Trudeln geraten,
den Glauben an uns selbst verlieren. Im Extremfall droht das
Ordnungssystem, das wir ein Leben lang aufgebaut haben,
zusammenzubrechen. Psychopathologische Erscheinungen können die Folge
sein, wie z.B. das Ausbrechen einer Depression. Unser innerer Ratgeber
kann uns dann auch nicht mehr helfen (auch wenn er sein Bestes
versucht: siehe Verkürzung der REM-Latenz). Oder es kommt zu bizarren
Verhaltensweisen, für unsere irritierte Umwelt ebenso unverständlich
wie für uns selbst. Vielleicht kann die Psychoanalyse als ein Versuch verstanden werden, die Ordnung in einem
durcheinander geratenen Gedankengeflecht wiederherzustellen. Sie
arbeitet sich in geduldiger Kleinarbeit bis zu jener Ebene hindurch, wo
die verhängnisvolle Fehlzuordnung erfolgt ist. |
Es ist die
Aufgabe unseres Kurzzeitgedächtnisses, neue Eindrücke und Erfahrungen
zu verarbeiten und einzuordnen. Nebensächliches muss als solches
erkannt und rasch vergessen werden, und das Wichtige muss treffsicher
in den richtigen Zusammenhang gebracht und einer längerfristigen
Speicherung zugeführt werden. Je übersichtlicher wir unser inneres
Ordnungssystem angelegt haben, desto leichter fällt es uns, Neues
einzuordnen. Unser Kurzzeitgedächtnis wird dadurch entlastet.
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Das Ordnungssystem darf aber
nicht zu simple sein, sonst kann es sich eines Tages als untauglich
erweisen. Die neuen Gedächtnisspuren werden dann nicht (wenn
nebensächlich) gelöscht oder (wenn wichtig) ins Langzeitgedächtnis
überführt, sondern sie bleiben unverarbeitet liegen und dämmern sinnlos
vor sich hin. Die Folge ist eine Überschwemmung des
Kurzzeitgedächtnisses mit einer Flut von Information (memory overflow).
Statt die Posteingänge in passende Ordner wegzusortieren, lassen wir
alles gewissermaßen auf unserem Schreibtisch liegen. Es könnte sein,
dass unser ‚neuronaler Schreibtisch‘ (das neuroanatomische Korrelat
des Kurzzeitgedächtnisses) einer solchen Belastung auf Dauer nicht
gewachsen ist: Nervenzellen werden geschädigt, und unsere Fähigkeit,
auf Gedächtnisinhalte zuzugreifen, nimmt ab. Es kommt zu einem circulus
vitiosus: Der gleiche Mechanismus, dessen geringe Effizienz das Problem
verursacht hat, verliert noch mehr an Leistungsfähigkeit.
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Innerhalb gewisser Grenzen mag
es durchaus sinnvoll sein, Eindrücke, mit denen wir zunächst nichts
anfangen können, erst einmal liegen zu lassen und abzuwarten. Oft
trifft wenig später ein weiterer Eindruck ein, der für uns mit einem
Schlag alles verständlich macht. Unser Kurzzeitgedächtnis eignet sich
dazu, mehr als nur einen Eindruck präsent zu halten. Zur Katastrophe
könnte es jedoch kommen, wenn das System, nach dem wir unsere Eindrücke
‚wegsortieren‘, selbst in Frage gestellt wird.
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Besonders gefährdet erscheint
der Mensch im vorgerückten Alter, wenn dessen private Weltordnung einen
solchen Grad an Perfektion erreicht hat, dass eine flexible Anpassung
an radikal veränderte Lebensbedingungen nicht mehr möglich ist. Statt
sich der Mühe zu unterziehen, für die Bewältigung einer geänderten
Lebenssituation neue Strategien zu entwickeln, verzichtet er auf die
sinnvolle Einordnung der neuen, ihm nur noch lästigen Eindrücke. Sie
häufen sich quasi ‚unverdaut‘ im Kurzzeitgedächtnis an. Einer der
Mechanismen, die für das Funktionieren des Kurzzeitgedächtnisses
verantwortlich sind, könnte einen potentiell neurotoxischer Vorgang
beinhalten. Dessen Aufdeckung könnte uns den Weg zu einem
pharmakologischen Gegenmittel weisen.
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Es sollte gegen die
Alzheimersche Krankheit jedoch auch andere erfolgversprechende Mittel
geben, wenn die Zusammenhänge wirklich so liegen, wie ich sie hier
skizziert habe. Einerseits erhebt sich die Frage, ob man den richtigen
Umgang mit neuen Eindrücken systematisch lernen kann, sodass man auch
noch im hohen Alter fähig ist, Neues zu verarbeiten (wann soll man
damit beginnen? Im Alter ist es dafür vielleicht schon zu spät); und
andererseits, ob es unsere Gesellschaft verabsäumt, älteren Menschen
adäquate Lebensbedingungen zu bieten, die langfristige Lebensstrategien
zulassen.
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Nachtrag:
Bildgebende Verfahren lokalisieren das Arbeitsgedächtnis im
intraparietalen Sulcus. Als ‚Wächter‘, die immer nur so viel
Information den Zutritt dorthin erlauben, als bequem bewältigt werden
kann, fungieren der präfrontale Cortex und das Pallidum (siehe
Kommentar von Awh & Vogel 2008, Nature Neurosci. 11:5-6).
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age-dependent memory decline
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