Was uns lockt

 [in English]


Annaliese Cassarino

Female Torso and Cherry Blossoms © 1999


Was entscheidet darüber, ob sich eine Art auf dieser Erde behauptet oder nicht? Wenn eine Art bestehen will im Kampf ums Dasein, muß sie sich fortpflanzen. Die jeweils Lebenden müssen sich darum bemühen, daß andere ins Leben kommen. Es genügt nicht, sich um den Erhalt des eigenen Lebens zu kümmern (ein Bemühen, das langfristig sowieso zum Scheitern verurteilt ist). Und wir kümmern uns nach besten Kräften darum, daß Nachkommen ins Leben kommen. Tun wir das, weil wir vernünftig sind und weise, und weil wir fest entschlossen sind, als Art zu überleben? Nein. In aller Regel tun wir es, weil es uns Spaß macht, großen Spaß sogar, und weil es uns mit großem Druck danach verlangt. Wir müssen. Männer drehen sich nach Frauen um, Frauen nach Männern. Es läßt sich kaum unterdrücken. Wir tun das nicht planvoll, absichtsvoll. Es geschieht mit uns ganz von allein. Und wir genießen es, es macht uns froh.
Irgendwann, lang vor dem Werden unsrer eignen Art, hat sich entschieden, daß zwei von uns zusammenkommen müssen, damit es neues Leben geben kann, dem unsern gleich. Und das was daraus wächst, ganz klein beginnend, unsichtbar am Anfang noch, wächst in einem nur, in einem von den beiden. Es braucht lange, bis es selber leben kann und ohne Hilfe. Sehr lange. Es braucht einen geschützten Raum, denn es muß wachsen, beginnend mit fast nichts. Und es findet diesen ersten Raum in nur einem von den beiden. Von beiden kommt ein Teil des Ganzen, und jeder trägt die eine Hälfte lang in sich, wie ein Versprechen. Doch sind sie erst vereint, wonach (wie schon gesagt) es beide Wesen sehnsüchtig verlangt, verbleibt die eine Hälfte wo sie war, und zusätzlich gelangt die andere hinzu, mit ihr von nun an vollkommen verbunden.
Somit verlangt die Fortpflanzung von zweien einer Art ein sehr verschiednes Tun. Nur am Anfang ist das Wollen gleich, die Sehnsucht nach dem anderen, nach dem Zusammensein. Im Tun jedoch wird nur noch einem etwas abverlangt. Denn einer muß die eine Hälfte aus sich heraus zum Einsatz bringen, muß eine Leistung bringen, und ohne diese Leistung geht es nicht. Der andere jedoch muß diese Leistung locken nur, und will sie locken, weil's die Natur ihm sagt. So fühlen beide sich verlockt von ganz verschiedner Aussicht: Den einen lockt das Weib, ihr bloßer Anblick ist ihm Argument genug. Der anderen jedoch genügt die bloße Schönheit nicht; sie lockt die Tat, die Stärke, die Bereitschaft zuzupacken, auszuführen, Leistung zu bringen, und die von der Natur ihm auferlegte Pflicht zu tun.
Und deshalb, weil die Rollen so verschieden sind, ist der eine Teil, das Weib, wenn sie uns ungeschützt erscheint, fast immer schön, und ist der andere, der Mann, als bloßes Bild fast immer - lächerlich.
[Entstanden nach Lektüre von "Nackt ist nicht gleich nackt": Der deutsche Starfotograf Wolfgang Tillmans über die Ungleichheit von weiblicher und männlicher Nacktheit. Im Album des Standard vom 30.4.04.]
10/3 <          MB 5/04          > 6/04
Beauty & attraction
Letztes Wochenende gelang mir zu diesem Thema eine erstaunliche Beobachtung (Feldforschung sozusagen). Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Meine Frau hat vor Jahren dieses malerische Plätzchen entdeckt, ein FKK-Gelände am oberen Ende der Donauinsel. Mit reichlich Trinkwasser ausgestattet, verbringe ich dort trotz der Hitze angenehme Stunden. Der Flüssigkeits- Umsatz ist entsprechend hoch. Heuer habe ich die schlechte Angewohnheit aufgegeben, demselben an einem Baum Tribut zu zollen. Statt dessen nehme ich bloßfüßig den kleinen Fußmarsch zur nächsten WC-Box auf mich.
Man höre (und staune darüber), was mir letzten Samstag bei einem solchen Gang widerfahren ist. Ich war bereits auf dem Rückweg, als oben auf dem breiten Fuß- und Radweg ein Herr auf seinem Fahrrad, mir entgegen kommend, plötzlich direkt Kurs auf mich nahm, obwohl ich ganz brav auf dem schmalen Sandstreifen neben dem Asphalt unterwegs war. Natürlich war ich gemäß der Widmung des Geländes adjustiert (also nicht nur an den Füßen bloß). Der mittlelalterliche Herr (in voller Montur) fixierte mich unterhalb meiner Leibesmitte und gab zunächst glucksende Geräusche von sich, die am ehesten an das Gackern eines Huhnes erinnerten. Dann brach er in lautes Gelächter aus, lenkte im letzten Moment an mir vorbei und rief mir, immer noch lauthals lachend, nach: "Das ist sooo lächerlich..."
Verdutzt sah ich ihm eine Weile nach und schüttelte ratlos den Kopf. Was war das jetzt? Ich brauchte eine Weile bis mir der obige Text einfiel (lang, lang ist's her...). Allmählich heiterte sich meine Stimmung wieder auf. Soeben hatte ich die erste praktische Bestätigung meiner damals noch rein theoretischen Überlegungen erlebt. Der Mann hatte recht.
10/3 <          MB (8/24)          > 6/04