FC Liverpool

Wann dürfen wir uns noch gemeinsam freuen?

Jahrtausende lang haben Menschen sich gefreut über das gemeinsam erlegte Wild, das gemeinsam errichtete Haus, und auch über den gemeinsam errungenen Sieg über den Feind. Inzwischen ist von Ersterem nur noch wenig übrig; unsere Häuser lassen wir meistens von Fremden bauen, die wir nie zu Gesicht bekommen; und die Freude über eventuell errungene Siege blieb uns in den letzten Jahrhunderten angesichts der damit verbundenen Gräuel eher im Hals stecken. Welche Gelegenheiten zur gemeinsamen Freude bleiben uns noch?
Es ist zwar unbestritten, daß wir heute in einem Ausmaß wie nie zuvor  bei der Befriedigung vitaler Bedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung, Behausung auf die Hilfe der Mitmenschen angewiesen sind.  Diese uns zuarbeitenden Mitmenschen verlieren aber immer mehr an Profil und tauchen ab in einen Nebel unpersönlicher Institutionen mit ständig wechselnden Gesichtern. Wer kennt heute noch "seinen" Schneider, "seinen" Greißler, "seinen" Schuster? An die Stelle gewachsenen Vertrauens ist die Wachsamkeit gegenüber einer unübersichtlichen Horde z.T. dubioser Anbieter getreten - nicht unbedingt ein Zuwachs an Lebensqualität.
Gemeinsame Freuden werden heute nur noch gegen Bezahlung bei Anlässen genossen, bei denen es objektiv betrachtet um nichts mehr geht. Denn seien wir uns ehrlich: Welche Probleme werden schon gelöst, wenn es gelingt, eine elastische Kugel mit einem Durchmesser von 22 cm und einem Gewicht von 43 dkg innerhalb der vorgeschriebenen Zeit von 90 min in ein Tor zu befördern, obwohl ein Gegner alles daran setzt, das zu verhindern? Das dabei empfundene Vergnügen resultiert einzig aus dem Mißvergnügen des Gegners (vice versa), denn ohne Gegner ließe sich die Kugel beliebig oft ins Tor befördern, ohne daß sich irgendjemand dafür interessieren würde.
Auch bei Konzerten und Theateraufführungen werden nur selten hungrige Mäuler gestopft oder Bleibendes von meßbarem Wert geschaffen. Im Musikverreinssaal Selbstmitgebrachtes zu verzehren wird nicht gern gesehen; und das Burgtheater verschlingt Saison für Saison über 40 Millionen € des Staatshaushalts.  Dennoch wird an diesen Orten gemeinsam Freude empfunden (auch wenn man diese Häuser meist hungrig verläßt). Oft ist es ein oberflächliches Vergnügen, manchmal ist es erheiternd, und hin und wieder wird man in eine Nachdenklichkeit versetzt, die auf Umwegen vielleicht sogar zu der einen oder anderen Problemlösung beitragen kann.
Das direkte gemeinsame Lösen praktischer Probleme größerer Relevanz findet heute kaum mehr statt. Und wenn uns der Zufall plötzlich wirklich vor ein echtes Problem stellt, wagen wir es nicht, Hand anzulegen und rufen nach den "Spezialisten". Dabei schlummern in jedem Menschen gewaltige Energien, die sich danach sehnen, in gemeinsamer sinnvoller Aktivität freigesetzt zu werden. Man muß nur einmal die grölenden Massen auf dem Fußballplatz erlebt haben, um eine Ahnung davon zu bekommen. Nach den traumatischen Erfahrungen mit dem 3. Reich sind die Menschen jedoch, weit über den deutschen Kulturkreis hinaus, skeptisch geworden gegenüber jeder Art von Begeisterung, die sich auf Themen großer Relevanz richtet.
Eine solche Begeisterung wird nur noch negativ als "Fanatismus" empfunden. Die kollektiv ausagierte "Lust am Sinn" findet nur noch sportliche und kulturelle Betätigungsfelder. Dort wird auch heute noch kraftvoll und freudetaumelnd agiert, fraternisiert und konfrontiert, unter der einen Bedingung: daß die dabei freigesetzten Energien möglichst wirkungslos verpuffen. Vielleicht sollten wir uns langsam überlegen, wie wir einen Teil dieser Energien wieder zur Lösung der anstehenden Probleme auf dieser Welt nutzen könnten, anstatt sie nur ängstlich abzuleiten.
7/08 <         MB (7/08)          > 7/08
Freedom & Society