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Lernprozesse |
Als vor ca. 2 Jahren in den Medien die ersten Stimmen einer Renaissance der Kernenergie das Wort redeten, traute ich meinen Ohren nicht. Sollte wirklich, 20 Jahre nach Tschernobyl, in den Redaktionsstuben bereits eine neue Generation den Ton angeben, die die katastrophalen Fogen des Reaktorunfalls nur mehr vom Hörensagen kannte? Inzwischen muß ich zur Kenntnis nehmen, daß es sich dabei nicht nur um verstandlose Einzelmeinungen handelt. Immer öfter ist davon die Rede, den Ausstieg aus der Kernenergie nicht nur hinauszuschieben, sondern sogar in den Bau neuer Reaktoren zu investieren. |
Der Mensch neigt dazu, dogmatisch an einmal gefaßten Meinungen festzuhalten, auch dann, wenn neue Argumente auftauchen, die ein Überdenken rechtfertigen. Sicherlich neige auch ich dazu. Aber wenn ich genau hinsehe, bemerke ich keine neuen Argumente. Die Geschichte ist dieselbe wie schon vor 20 Jahren: Wieder soll eine begrenzte Ressource (diesmal Uran statt Erdöl) verheizt werden, und der extrem stark strahlende Müll, der dabei zwangsläufig anfällt, soll nach wie vor irgendwo verbuddelt werden. Dabei ist aus physikalischen Gründen völlig klar, daß dieser Müll auch noch in 1000 Jahren heftig strahlen wird, ob die Menschen das dann aber noch wissen werden, ist völlig unklar. |
Wollte man wirklich den Energiebedarf der Welt in den nächsten Jahrzehnten mit Uran decken, so werden die paar 100 aktuell existierenden Kraftwerke nicht reichen; es werden schon ein paar 1000 sein müssen. Schon heute ist die Überwachung des Umgangs mit Uran kein triviales Unterfangen. Immerhin können aus Uran Atombomben gebaut werden. Sollen wir uns wirklich auf eine Expansion dieser Technologie einlassen? Ich fürchte, man würde dabei zu optimistisch auf das Primat der Vernuft gegenüber der Emotion setzen. Der Mensch ist leider zu jeder Schurkerei fähig; nichts, was wir heute über die Psyche des Menschen wissen, gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß es eine Monströsität gibt, zu der er nicht bereit wäre. |
Es ist einfach ein Gebot der Vernunft, die Zahl der Menschen, die Zugriff auf spaltbares Material haben, so gering wie möglich zu halten. Das schließt einen weltweiten Umstieg der Energiegewinnung auf Kernkraft definitiv aus. Es wäre fahrlässig, darauf hinzuarbeiten. Alle, die heute in diese Richtung argumentieren, müßten sich später einmal den Vorwurf gefallen lassen, fahrlässig gehandelt zu haben. |
Menschen setzen alles, was ihnen zur Verfügung steht, immer auch gegen Menschen ein. Menschen sprengen andere und sich selbst (mit "konventionellem" Sprengstoff) in die Luft; Menschen zünden Menschen an; Menschen vergiften Menschen; Menschen hacken Menschen den Kopf ab; Menschen stoßen Menschen hohe Gebäude hinunter; Menschen stoßen Menschen vor fahrende Züge; sie steuern sogar voll besetzte Flugzeuge in Hochhäuser. Wenn sie dazu Gelegenheit bekommen, werden Menschen bestimmt auch mit Atombomben nach anderen Menschen werfen. Man muß kein Hellseher sein, um das vorauszusehen, ein bißchen Verstand genügt. |
Mit jeder anderen Energieform kann der Mensch dosiert Erfahrungen sammeln. Seit Millionen von Jahren haben der Mensch und seine Vorfahren Erfahrungen mit dem Feuer gemacht. Zwar machen wir im Umgang mit Feuer immer noch Fehler (und werden wohl auch in Zukunft immer wieder Fehler machen), aber kleine Fehler führen nicht gleich zu einer Katastrophe. Jeder darf sich, ohne großen Schaden zu nehmen, einmal die Finger verbrennen. Es ist uns auch gestattet, aus Fehlern beim Umgang mit Elektrizität zu lernen; ein Fehler kostet nicht immer gleich das Leben. Auch Vergiftungen können graduell auftreten. Und Wind und Wetter wird man dosiert ausgesetzt; man lernt es kennen und kann sich davor schützen. |
Kernenergie ist nicht erfahrbar. Nur eine winzige Minderheit geht damit um und bekommt dabei einen schwachen Eindruck, welche Gewalten hier frei werden könnten. Die versuchsweise Annäherung von Dilletanten an diese Technik ist rein physikalisch unmöglich. Mit dieser Kraft kann nicht mit primär- anthropologischen Mitteln kommuniziert werden. Man kann sie nicht riechen, nicht kosten, nicht probeweise berühren, nicht daran horchen. Es kann keinen Vorgeschmack auf das Produkt geben. Es gibt keine kleine Flamme, die die Fantasie zur Feuersbrunst extrapolieren könnte, keinen Funken, der eine Ahnung von der Spannung geben kann, die sich entladen will. |
Lernprozesse sind bei der Kernkraft immer extrem teuer. Im Jahr 1945 haben die beiden einzigen bisher in einer kriegerischen Auseinandersetzung eingesetzten Atombomben sofort 155.000 Menschen das Leben gekostet. An Spätfolgen dürften noch einmal so viele Menschen gestorben sein. Seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl können in der Ukraine 800.000 ha Land und 700.000 ha Wald wirtschaftlich nicht mehr genutzt werden. Ca. 40% der Fläche Europas wurden mit mindestens 0,1 µCi 137Cs pro m2 kontaminiert (Wikipedia). Kommt es tatsächlich zu einer Zunahme der Nutzung von Atomenergie, werden uns weitere schmerzliche Lernprozesse dieser Art nicht erspart bleiben. |
7/08 < MB (8/08) > 8/08 |
Mehr zum Thema: No fun (4/06) Putting the threat into perspective (9/07) |