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Abgründe tun sich auf...

Schön langsam sollte man sich Gedanken machen. Versteht überhaupt noch irgendjemand, womit wir es zu tun haben? Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Und es geht nicht um die Bäume; es geht um den Wald, den ganzen. Es geht um unsere Gesellschaft, die selbstverständlich aus Menschen besteht, aber eben auch ihren eigenen Gesetzen folgt.
Gesellschaften basieren auf Kommunikation. So einfach ist das. Ohne Kommunikation keine Gesellschaft. Was aber versteht man unter derselben (der Kommunikation nämlich)? Eigentlich geht es dabei um den Versuch, um das Bemühen, (A) den eigenen Standpunkt für den Adressaten verständlich zu machen, und (B) eine Idee davon zu bekommen, was der andere meint.
Das ist keine moderne Erfindung. Kommunikation steht an der Wiege der Menschwerdung. Salopp gesagt: Affen wurden zu Menschen aufgrund einer artbestimmend dramatisch gesteigerten Kommunikationsfähigkeit. Vermutlich hat das mit Mutationen in einem Transkriptionsfaktor zu tun (FoxP2), die wir mit Neandertalern, aber nicht mit Schimpansen teilen.
Es geht also um unsere geliebte Sprache und wie wir sie einsetzen. Gedacht, gewissermaßen von der Evolution gedacht, waren die angesprochenen Mutationen dafür, das Verstehen zwischen Artgenossen zu erleichtern. Leider lässt sich die prächtige Fertigkeit auch für so manchen kontraproduktiven Blödsinn missbrauchen, z.B. für endlose Streitereien und sinnloses gegenseitiges Befetzen.
Auch unsere Gesellschaften (und ich verwende ganz bewusst die Mehrzahl) basieren auf Naturgesetzen. Manche wird das vielleicht überraschen, aber wenn sich jemand ein wenig mit vergleichender Verhaltensforschung befasst hat und vielleicht sogar eine schwache Ahnung hat von Zuständen komplexer dynamischer Systeme, wird er/sie auch keine geheimnisvollen Kräfte hinter sozialen Phänomenen vermuten.
Komplexe dynamische Systeme bewegen sich ständig zwischen zwei oder mehreren Zuständen. Sie sind nie in Ruhe. So ist z.B. jedes Lebewesen, vom Einzeller herauf bis zum Menschen, ein komplexes dynamisches System. So wie manche Biologen geneigt sind, staatenbildene Insekten kollektiv zu betrachten (und z.B. nicht von Bienen, sondern vom 'Bien' sprechen, womit ein ganzer Bienenstaat gemeint ist), so könnte man die menschliche Art zusammengesetzt verstehen nicht aus einzelnen Individuen, sondern aus Populationen.
Betrachtet man die Art homo sapiens unter diesem Gesichtspunkt, wird einem klar, dass Probleme auf mehreren Ebenen auftauchen können. Leider neigen wir spontan dazu, auf das Individuum zu fokussieren. Kaum jemand hält es für möglich, mit dem gleichen logischen Rüstzeug auch dem komplexen System 'Staat' zu Leibe zu rücken. Dabei kennt auch ein solches System durchaus seine Gesetzmäßigkeiten.
Auf dieser höheren Ebene kommt die Sprache in all ihren Facetten zur Geltung. Im Alltag gebrauchen wir meistens dieses Instrument ohne lange Planung und Überlegung. Man redet, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Betrachtet man aber große Kollektive von einer höheren Warte aus, fallen einem bald vorhersagbare Strukturen auf. So homogen man sich die Masse der Teilnehmer am Phänomen Kommunikation auch immer vorstellen mag, so kommt es doch im Lauf der Zeit unweigerlich zur Ausbildung von Lagern und Schichten.
Schon allein aus methodisch-pragmatischen Gründen und wegen der naturgegebenen Unterschiede individueller Fähigkeiten treten sehr bald (eigentlich von Anfang an) Wortführer auf den Plan. Meistens handelt es sich dabei um nette Leute, die ein Anliegen gut auf den Punkt bringen. Die unterschiedlichsten Standpunkte finden so ihr Klientel und werden gegeneinander in Stellung gebracht. Im Idealfall führen dabei Vernunft und gesunder Menschenverstand die Regie.
Unter günstigen Umständen kommen auf diese Weise gute Entscheidungen zustande, gut weil sie (A) das aufgetretene Problem lösen und (B) die Lösung von allen mitgetragen wird. So war es vermutlich oft in grauer Urzeit, und genau für diese segensreichen Konsensfindungsprozesse hat uns die Evolution zur Sprache verholfen. Allerdings: die Evolution wusste nichts von Schrift und Medien, von facebook und google, von Mobiltelefonen und PCs.
Sie wusste auch nichts von Universitäten und Masterprogrammen, Zeitungsredaktionen und Postern mit Millionen followern, Fernsehsendern mit millionenschweren Anzeigeneinnahmen, politischen Parteien und üppigen Zuwendungen an dieselben, Einschaltquoten, shit storms, youtube,Transkontinentalflügen und Satelliten. Aber sie wusste schon alles von unserer Vernunft, die wir nur richtig nutzen müssten, um all das zu unserem Vorteil als Art einzusetzen.
Vor über einem halben Jahrhundert konnte ich als Jugendlicher im Schulunterricht problemlos den Sinn und Segen von Impfungen nachvollziehen. Einzige Voraussetzung: Meine durch Mutter Natur (zwar nicht besonders üppig, aber doch) erfolgte Ausstattung mit Vernunft. Heute gelingt es mir nicht einmal, meiner besseren Hälfte die Impfskepsis auszureden. Und dabei bildete ich mir immer ein, ein guter Erklärer zu sein. Warum ist das so? Was hat sich verändert?
Schuld ist die seit 1989 entfesselte Markwirtschaft. Bis dahin war in den westlichen Gesellschaften nicht nur der Wohlstand gestiegen, sondern auch das Bildungsniveau. Seitdem stieg in erster Linie die ökonomische Ungleichheit. Die Mehrheit blieb auf einem eher bescheidenen Bildungsniveau, wiewohl begleitet von einer inflationären Verbreitung akademischer Titel zweifelhafter Qualität.
Ohne besseres Wissen reimen sie sich ein simples Weltbild zurecht, das man früher schlicht als Aberglauben wahrgenommen hätte. Auffällig sind eklatante Schwächen im Umgang mit Zahlen, besonders wenn diese unanschaulich hoch werden. Mit Argumenten dagegen zu halten führt oft zu nichts, weil diese wegen mangelden Allgemeinwissens nicht nachvollzogen werden. Man redet sich den Mund fusselig bzw. tippt sich die Finger wund: es ist sinnlos.
Nach mehr Bildung zu rufen erscheint müßig, solange mit Bildung nicht die Fähigkeit gemeint ist, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Leider wird darunter immer mehr nur die Vermittlung von Fachkenntnissen verstanden. Die Vernunft wird scheinbar als naturgegeben betrachtet, nicht bedürftig der systematischen Schulung. Naturgegeben mag sie durchaus sein, aber das zwangweise Eintrichtern von Fachkenntnissen führt eher zu ihrem Ersticken als zu ihrer Entfaltung.
Unser Bildungssystem ist dabei, die Bodenhaftung zu verlieren. Bis vor ca. 2 Generationen holte man den Schüler dort ab, wo jeder natürlicherweise im Bildungsprozess beginnt: bei der Neugier. Scheinbar kannte ich noch genug Lehrer und Lehrerinnen, die sich in die Psyche eines wissbegierigen Kindes hineinversetzen konnten. Zeit meiner Tätigkeit als Lehrperson habe ich mich bemüht, diesen Weg des Wissenserwerbs zu ermöglichen.
Der systematische Drill war mir immer ein Gräuel. Heute geht es um genau das: in möglichst kurzer Zeit ein Maximum an abfragbarer Information in die Köpfe zu bringen. Nur was quantifizierbar ist, gilt. Durch das Primat der messbaren Lernleistung bleibt der Blick fürs Ganze auf der Strecke. Resultat ist ein orientierungsloses Flickwerk, das später in freier Wildbahn sich selbst überlassen zu nicht viel nütze ist. Nur wer ermuntert wurde, der Wirklichkeit mit probatem Rüstzeug selbstbestimmt zu Leibe zu rücken, wird von ihr einen realistischen Eindruck bekommen.
Und wird nicht zögern, sich gegen eine lebensbedrohliche Pandemie impfen zu lassen. Gnade uns Gott, wenn es bei uns demnächst einen Ebola-Ausbruch geben sollte! Mit vorsichtig geschätzten 50% Halbgebildeten würde es ein steiniger Weg zur Herdimmunität.
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