11. September 2001:

Wir sind schon lange zu weit gegangen

(English version)

Ó photobucket 2006


Nach den Ereignissen vom 11. September mußte erst einmal nachgedacht werden. Noch nie hat ein Ereignis in so kurzer Zeit so viele Menschen zum Nachdenken gebracht. Alle denken nach: Die US-Amerikaner; die Moslems; die Europäer; die Chinesen; die Israeli; die Afghanen sowieso; alle, bis zum letzten Hirten in Lappland und zum letzten Indianer im Dschungel.
Im Allgemeinen kommt auch etwas Vernünftiges dabei heraus, wenn Menschen nachdenken. Wenn Menschen zu Schlußfolgerungen gelangen, dann äußern sie diese gegenüber anderen Menschen. Manche verschaffen sich dabei mehr Gehör als andere. Immerhin: Man redet, man praktiziert Rede und Gegenrede, und man darf darauf hoffen, daß auch vernünftige Ansichten Gehör finden und an Einfluß gewinnen.
Mehr Menschen als je zuvor leben heute in halbwegs demokratischen Gesellschaften, mit einigermaßen freien Medien. Es ist nicht nur naiver Optimismus, wenn man von der angelaufenen Diskussion sinnvolle Anregungen dafür erwartet, welche Lehren aus dem weltweiten Schock zu ziehen sind. Wir alle sollten mitdenken, und vor allem aufmerksam zuhören.
Es wird viele, sehr viele Aussagen geben, und nur wenige davon werden hörenswert sein. Es wird nicht leicht sein, diese zu erkennen. Man darf keine vorgefaßte Meinung haben. Denn eines steht fest: Es wird sich etwas ändern. Wenn wir gut nachdenken, wird es eine Änderung zum Besseren sein.
Wir Menschen waren immer schon der Aggression durch Mitmenschen ausgesetzt. Mit dem Fortschreiten der technischen Entwicklung sind diese Angriffe immer monströser geworden. Von unseren noch weniger vernunftbegabten Vorfahren haben wir zwei Strategien geerbt, darauf zu reagieren. Entweder wir laufen weg und versuchen uns in Sicherheit zu bringen, oder wir schlagen zurück.
Beides hat ein paar Jahrtausende lang so recht und schlecht funktioniert. Mit der Zeit haben wir gelernt, daß es auch andere Möglichkeiten gibt. Im modernen Strafvollzug macht man sich heute nicht nur darüber Gedanken, wie man Aggressoren unschädlich macht, sondern man fragt sich vernünftiger Weise auch, wodurch sie zu Aggressoren wurden.
Nur wenige Menschen attackieren aus Jux und Tollerei andere Menschen. Die Menschen haben meist einen Grund für das, was sie tun. Wir wissen das, denn wir haben die wunderbare Fähigkeit, uns in andere hineinzudenken. Jeder war in seinem Leben schon dann und wann auf jemand anderen wütend. Wir sind deshalb aber nicht gleich handgreiflich geworden (zumindest nicht immer). Unsere Stärke liegt darin, in größeren Zusammenhängen zu denken.
Wir haben durch leidvolle Erfahrung heraus- gefunden, welche Konstellationen besonders leicht zu Tätlichkeiten führen, und wir haben gelernt, sie zu vermeiden. Das hat nichts mit Flucht oder Feigheit zu tun. Das hat viel mit gegenseitigem Verständnis und mit Respekt zu tun. Wir schätzen es, respektiert zu werden, und wir wissen, daß das die anderen auch tun. Wir wollen respektiert werden in unserer Privatsphäre, in unserer Arbeit, in unserem Glauben. Wir wollen nicht, daß uns jemand zu nahe tritt.
So vielen Menschen wird heute auf vielfältige Weise Tag für Tag nahe getreten. Wir merken es gar nicht mehr. Unsere Signale überziehen den Erdball. Kein Winkel dieser Erde ist mehr vor ihnen sicher. Das geschieht selten absichtsvoll, von Mensch zu Mensch. Auf dieser direkten Basis ist es leichter, Ordnung zu halten. Schwierig ist die Lage heute deshalb geworden, weil wir keine Kontrolle mehr darüber haben, welche Signale wen wo erreichen.
Nichts kann heutzutage geheim und privat bleiben. Alles wird verstärkt und verzweigt in die Welt hinaus gerufen. Und oft werden damit Menschen getroffen, die es nicht ertragen können. Menschen werden verletzt, verunsichert, und manche fühlen sich persönlich angegriffen. Niemand will das, aber es geschieht. Es wäre wichtig, das zu vermeiden. Es genügt nicht mehr, in jedem Land für sich das subtile Gleichgewicht zwischen Wollen und Dürfen zu halten. Der moderne, weltweite Kommunikations- zusammenhang zwingt uns zur globalen Übereinkunft.
Wir müssen unser natürliches Sensorium dafür, wie weit wir im Umgang mit dem Mitmenschen gehen können, verfeinern. Wir müssen uns dessen bewußt werden, daß wir inzwischen weltweit vor offenen Mikrophonen agieren, und die ganze Welt hört zu. Wir hatten bis zum 11. September keine Vorstellung davon, was wir dabei anrichten können.
Menschen müssen mit Menschen Geduld haben: wir mit den anderen, und die anderen mit uns.
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Freedom & Society