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Das Wespennest

Da haben wir den Salat: Jetzt sitzen sie da, in einer öffentlichen Verhandlung, allesamt hochnotpeinlich gequält, keiner will wirklich dort sein, dort Antwort geben, dort aussprechen, was unter dem Staub mehrerer Jahrzehnte begraben lag. Wie konnte es soweit kommen? Welche Laune hat wen geritten, in dieses Wespennest zu stechen? War nicht damit zu rechnen, dass die Wespen, die störenden, uns allen um die Ohren fliegen werden?
Diese 'Wespen', die längst vergessen geglaubten, sie haben die unangenehme Eigenschaft, aus allen möglichen Löchern aufzusteigen, auch aus den vermeintlich nicht angestochenen. Bald schwirrt alles Mögliche durch die Gegend, ein Wort gibt das andere, und zurück fliegen sie nimmer mehr, die Lästigen. Die Jurisprudenz ist (wie schon am Namen ersichtlich) vorsichtig genug, sich auf so lange zurückliegende Geschichten erst gar nicht mehr einzulassen.
Eigentlich ahnte es schon Altvater Freud: wie unzuverlässig das menschliche Erinnerungs-  vermögen ist, wenn es um emotional stark belastende und weit zurückliegende Erlebnisse geht. Banales hat jeder von uns problemlos zur Hand; selbst aus früher Kindheit wissen wir alle noch so manche Schnurre zu erzählen, vor allem wenn die Sache glimpflich oder gar heiter verlaufen ist.
Wehe aber, es geht um schwer Konfliktbeladenes. Dann bügelt unser Gedächtnis so Manches zurecht. Von so manchem ambivalenten Gefühl bleibt dann nur die eine Hälfte übrig, und von der anderen wissen wir nichts mehr. Das hat nichts mit Lüge oder Verheimlichen zu tun; wir sind uns gewisser Aspekte der Vergangenheit tatsächlich nicht mehr bewusst.
Warum das so ist, ist schwer zu erklären und wissenschaftlich wohl auch noch nicht restlos verstanden. Es könnte daran liegen, dass jeder Mensch aus Gründen der Zufriedenheit nach einer 'gefestigten Persönlichkeit' strebt, in sich widerspruchsfrei, im Rahmen eines selbst zurecht gezimmerter Moralsystems. An diesem Moralsystem wird zeitlebens gebastelt und geschliffen, und so manche Kante oder Ecke kann dabei geglättet werden.
Am Ende kann das dazu führen, dass Menschen ein gemeinsam erlebtes Ereignis sehr unterschiedlich in Erinnerung haben. Jeder hat für sich bestimmte Aspekte herausvergrößert und andere vergessen. Im vorgerückten Alter immer noch hie und da zu Maturatreffen zu gehen kann da sehr lehrreich sein, wenn es gelingt, einander gut zuzuhören. Manchmal können dann Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, auf einmal in einem neuen, überraschenden Licht erscheinen.
Wenn schon die eigenen lange für zuverlässig und authentisch gehaltenen 'Erinnerungen' zumindest unvollständig, manchmal sogar explizit falsch sein können, wie unsicher müssen dann erst Informationen aus zweiter Hand sein? Man weiß etwas 'vom Hörensagen', und rasch wird daraus Klatsch und Tratsch. Der Mensch ist Weltmeister in dieser Disziplin. Und der verantwortungsvolle Rechtsgelehrte weiß das natürlich.
Die heute ach so flinken sozialen Medien wissen das nicht. Dennoch haben sie eine erschreckende Reichweite und Wirkmacht. Ist eine Meinung erst einmal draußen, dann fliegt sie, die Wespe. Und leider stechen sie auch, die Viecher. Das kann dann ganz schön weh tun. Vor Gericht sind wir klug genug, uns nicht auf Wespen einzulassen. Vielleicht wird diese Klugkeit eines Tages auch auf den Umgang mit Medien ausstrahlen. Es wäre zu wünschen.
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Gender & society