Immer die Radfahrer
urbanwaste (1958)

Konventionen

Seit 3 Jahrzehnten bin ich mit dem Fahrrad auf den Straßen Wiens unterwegs, und zwar ziemlich furchtlos. Es schreckt mich nicht, mich auch auf mehrspurigen Fahrbahnen im Autoverkehr zu behaupten. Mir ist bisher noch nichts Ernstes passiert. Dabei fahre ich täglich. Wahrscheinlich bin ich deshalb relativ sicher unterwegs, weil ich eher langsam fahre. Auf mehr als 20 km/h komme ich kaum.
In all den Jahren habe ich es als Radfahrer auf eine einzige Verkehrsstrafe gebracht. Als ich gegen eine Einbahn fuhr, kam blöderweise ein Polizeiauto um die Ecke. Die Fahrbahn war breit genug, und wir wären locker aneinander vorbei gekommen. Die Polizisten hat dieses Argument nicht beeindruckt. Erst ein Jahr später war es dort erlaubt, mit dem Rad gegen die Einbahn zu fahren.
Vor Jahren wurde ich in Paris Zeuge einer für mich erstaunlichen Straßenszene. Es war während der spätnachmittäglichen Verkehrsspitze. Auf einer vierspurigen Straße wälzten sich in beide Richtungen unendliche Kolonnen dahin. Zu beiden Seiten der Straße stauten sich die Menschenmassen, auf eine Lücke lauernd. Mittendrin ein armer Verkehrspolizist. Niemand achtete auf ihn. Als der Verkehrsstrom ein wenig ins Stocken geriet, stürzten die Menschenmassen sofort los, und während sie über die Straße fluteten, drehte sich der Polizist, die Richtung weisend, die sich die Fußgänger sowieso ohne ihn erkämpft hatten.
Auch schon vor etlichen Jährchen kam ich in Frankfurt am Main als Fußgänger mehrmals in den Genuss eines Erlebnisses ganz anderer Art: Während ich als geschulter Österreicher an einem Zebrastreifen auf einen günstigen Moment wartete, hielten die Autos vor mir an! Fast peinlich berührt überquerte ich die Straße. Wenn man in Wien so etwas erlebt, sitzt wahrscheinlich ein Deutscher am Steuer.
Das letzte Stück meines Heimwegs von der Arbeit führt gegen eine mehrspurige, stark befahrene Einbahn. Manchmal, wenn die Ampel rot ist, macht es mir Spaß ein Stück aus der falschen Richtung auf die wartende Meute zuzufahren. Meistens aber benutze ich den 2 m breiten Gehsteig. Ich fahre dabei im Schritt-Tempo und halte mich von Hauseingängen fern. Auf noch etwas achte ich dabei: darauf, dass kein Polizist in Sichtweite ist. Ich habe aber den Eindruck, dass die meisten Polizisten harmlose "Übertretungen" von gefährlichen unterscheiden können.
In letzter Zeit scheine ich öfter als früher auf Fußgänger zu treffen, die es mir übel nehmen, wenn ich auf dem Gehsteig fahre. Komischerweise sind das immer Zurufe aus der Ferne, von der anderen Straßenseite, oder auch einmal aus einem Fenster. Könnte es sein, dass in Wien generell die Atmosphäre zwischen Fußgängern und Radfahrern schlechter geworden ist? Dabei laufen dieselben Fußgänger, die die Radfahrer dazu ermahnen die Straßenverkehrsordnung einzuhalten, selber bei Rot über die Straße.
Wie man am Beispiel Paris sieht, gibt es auch einen entspannteren Umgang mit Regeln. Über lange Zeiträume spielen sich informelle Konventionen ein. Hoffen wir, dass auch die Wienerinnen und Wiener mit der Zeit den Radfahrern mit Verständnis und nicht nur mit dem Buchstaben des Gesetzes begegnen. Ihre Frequenz nahm in den letzten Jahren zum Glück zu; leider hat die ihnen zur Verfügung gestellte Verkehrsfläche damit nicht Schritt gehalten. Deshalb müssen wir gelegentlich zu Notlösungen greifen. Solange das mit Vernunft und Vorsicht geschieht, sollte es keinen Grund zum Schimpfen geben.
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Machtverhältnisse