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Bildung oder Verbildung?

Das Leben manifestiert sich in einer Vielzahl vorübergehender Erscheinungsformen.  Diese Erscheinungsformen erinnern in ihrer Konsistenz ein wenig an die Wirbel eines Baches, die an bestimmten Stellen über einen langen Zeitraum bestimmte Formen annehmen, und doch immerzu von frischen Wassern durchströmt werden. So bietet jedes Lebewesen Halt für Myriaden von Molekülen, die sich vorübergehend zu einem dynamischen Ganzen verbinden.
Auch der Mensch ist so ein dynamisches Ganzes. Er wird; besteht; verändert sich kontinuierlich; und zerfällt wieder. Er bildet dieses Ganze in vielerlei Hinsicht: Rein physisch in Form seines Körpers; intellektuell in Form seiner kognitiven Fähigkeiten; und sozial in Form seiner Persönlichkeit und seiner Rolle in der Gesellschaft. Alles fließt (Heraklit, ca. 480 v. Chr.).  Auch das Selbstverständnis des Menschen als Gemeinschaftswesen, als zoon politikon, wurde schon von den frühesten uns bekannten Philosophen festgestellt (Aristoteles, ca. 330 v. Chr.).
Die Rolle des Menschen in der Gemeinschaft "fließt". Alle werden geboren, alle fangen an als Kind (ein Faktum, das angesichts mancher ausgewachsener Exemplare kaum mehr vorstellbar ist). Die für den Menschen so wesensbestimmende Gemeinschaft besteht aus ständig wechselnden Mitgliedern, mit Rollen, die immer wieder umbesetzt werden. Zwar gibt es immer Alte und Junge, Heranwachsende und Dahinsiechende, Bestimmende und Angepasste, doch die Besetzungen der jeweiligen Rollen ändern sich unaufhörlich.
Menschen ändern sich. Vor allem in frühen Jahren ist dieser Umstand unübersehbar. Schon das schlichte Gewahrwerden der Physis erlaubt die Unterscheidung des Kindes vom Erwachsenen. Was die Zuordnung weiterer Rollen betrifft, orientieren wir uns an weniger offensichtlichen Merkmalen: an bestimmten stereotypen Verhaltensmustern, Ausübung von Funktionen, Zur-Schau-Stellung gewisser Attribute, Pflege spezifischer Gewohnheiten, bis hin zum Gebrauch einer milieuspezifischen Umgangssprache.
Wie durch ein Wunder entstehen dadurch dynamische Gleichgewichte ("Wasserwirbel", um beim eingangs erwähnten Beispiel zu bleiben) von beeindruckender Stabilität. Viele im Licht der Öffentlichkeit stehende Personen erfüllen ihre Rolle mit nahezu altersloser Kontinuität über Jahrzehnte. Auch meine Eltern, die bereits beide ihren 80er überschritten haben, erscheinen mir immer noch als die Menschen, die sie für mich immer waren. Das Funktionieren unserer Gesellschaft basiert auf der Zuverlässigkeit ihrer Mitglieder.
Man kann sich (mehr oder weniger) darauf verlassen, daß Züge fahren, Kinder unterrichtet werden, Brot gebacken und Bier gebraut, Strom produziert und Wasser geleitet wird; daß die Geschäfte beliefert werden und an Tankstellen Benzin verkauft wird. Auf all das kann man sich verlassen, wenn Menschen ihrem Beruf nachgehen und ihre Rollen erfüllen. Und man kann sich darauf verlassen, weil diese Rollen nicht nur von bestimmten Menschen erfüllt werden können, sondern (im Prinzip) von jedem beliebigen, sofern sie/er entsprechend ausgebildet wurde.
Hier komme ich endlich zu jenen Gedanken, die mich veranlaßt haben diesen Text zu beginnen. Stichwort Kinder, Stichwort Schule, Stichwort Ausbildung. Bei den wenigen Stammesgesellschaften, die sich bis heute einen Lebensstil ohne millionenfachen sozialen Überbau erhalten haben, signalisiert ein "Initiationsritus" den Betroffenen und der Gemeinschaft den Übergang vom Kindsein zu einer Existenz als Erwachsene. Im Wesentlichen geht es hier um den Übergang von einer abhängigen, schutzbefohlenen Existenz zu einer selbstständigen, im Bedarfsfall anderen Schutz bietenden Existenz.
Der Zeitpunkt dieses Übergangs orientiert sich bei Stammesgesellschaften sehr direkt am (endokrinologisch bestimmten) Faktum der eigenen Reproduktionsfähigkeit. Damit stellen sich diese Gesellschaften konsequent in die Tradition ihrer über Jahrtausende aufrecht erhaltenen Lebensweise: vom Standpunkt der Evolution aus betrachtet scheint sich dieses Alter als das günstigste erwiesen zu haben für den Übergang zum selbstverantwortlichen Dasein.
Die immer komplexer werdenden arbeitsteiligen Gesellschaften nach der jungsteinzeitlichen Revolution (Ackerbau, Viehzucht) haben uns heute eine beträchtliche Verschiebung dieses Datums beschert. Zwar hat sich an den endokrinologischen Fakten kaum etwas geändert (so schnell schießen die Gene nicht...), wohl aber die Sitten und Gebräuche; die haben sich deutlich geändert, und ändern sich heute rascher denn je.
Reste archaischer Initiationsriten haben sich auch in unserer komplexen Zivilisation erhalten. So endet in Österreich die Schulpflicht meistens im 15. Lebensjahr, also (analog zu den alten Stammesgesellschaften) kurz nach der Pubertät. Danach kann bereits der "Ernst des Lebens" in Form einer Arbeits- bzw. Lehrstelle beginnen. Inzwischen beschreitet aber nur noch eine Minderheit der Jugendlichen diesen Weg; die Mehrzahl entscheidet sich für weitere Jahre schulischer Ausbildung.
Kommentatoren jüngster europaweiter Statistiken beklagen den mit 28% unterdurchschnittlichen Anteil an Akademikern in Österreich. Etwas mehr als ein Viertel der Österreicherinnen und Österreicher blickt also auf eine weit über das 20. Lebensjahr hinausreichende Ausbildung zurück. Und dieser Anteil wäre - nach Ansicht zahlreicher Kommentatoren - immer noch zu niedrig und sollte nach Kräften gesteigert werden, am besten auf skandinavische 80%.
Damit wird der Übergang zu einer selbsterhaltenden eigenverantwortlichen Existenz des Menschen bis tief in das 3. Decenium hinein verschoben. Offenbar ist eine solche Verschiebung wirtschaftlich leistbar, denn in manchen Gesellschaften ist sie schon heute Realität. Aber ist sie auch wirklich notwendig? Müssen wir alle heute um so vieles mehr wissen als noch vor 50 oder 100 Jahren? Und ist zum Erwerb dieses Wissens tatsächlich ein Zeitraum von 20 Jahren notwendig?
Die Natur hat nicht nur den für unsere (früheren) Lebensumstände angemessenen Zeitpunkt der endokrinologischen Reife optimiert; auch was unsere Lernfähigkeit betrifft bevorzugt die Evolution eine (im Vergleich zu anderen Primaten sowieso schon protrahierte - Barrickman et al 2008) frühe Lebensphase. Kurz gesagt: je früher wir lernen, desto leichter tun wir uns dabei. Dieser Vorsprung minimiert sich nach der (im Vergleich zu anderen Primaten ohnehin sehr späten) Pubertät weitgehend. Vom Gesichtspunkt der neuronalen Plastizität aus betrachtet wäre es also eher unklug, wichtige Lernprozesse weit über die Pubertät hinaus zu verschieben.
Außerdem erschweren wir mit endlos verschleppten Ausbildungszeiten die Persönlichkeitsbildung junger Menschen. Der Übergang von der Rolle des kindlich Hilflosen zu der des eigenverantwortlichen Entscheidungs- trägers entzieht sich immer mehr der sozialen Ritualisierung. Man weiß bei einem jungen Menschen heute nicht mehr, woran man ist. Oft wissen es die Jungen selbst nicht mehr. Die Verschulung des Menschen über die Phase der größten Lernfähigkeit hinaus trainiert im schlimmsten Fall Massen von lernbesessenen Befehlsempfängern, die bis an ihr Lebensende Gedankengängen folgen, die andere formuliert haben, anstatt selber zu denken.
Wann ist der günstigste Zeitpunkt für die Abnabelung eines Jugendlichen von seiner Kinderstube? Sollte dieser Übergang nicht dann erfolgen, wenn noch ein Rest nachpubertärer Plastizität und Unternehmungslust im Gehirn knistert? Unsere aktuelle Bildungsdebatte läuft in eine ganz andere Richtung. Seltsam, daß gerade die Jungen nach mehr Bildung schreien. Vielleicht sind sie schon verbildet.
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Education / Erziehung
Aristoteles (ca. 330 v. Chr.) Politika.

Barrickman NL, Bastian ML, Isler K, van Schaik CP (2008) Life history costs and benefits of encephalization: a comparative test using data from long-term studies of primates in the wild. J Hum Evol 54: 568-90.

Heraklit (ca. 480 v. Chr.) Der Satz "Alles fließt" kommt in den wenigen von Heraklit erhaltenen Fragmenten wörtlich nicht vor, wohl aber das Bild, daß man nicht zweimal im selben Fluß baden kann.
siehe auch: Das Ende einer Institution