Einwürfe

zur Vorlesung
"Anthropologie"

von
Günther Pöltner
(SS 08)
Günther Pöltner

(1)

    Aus der Seele haben Sie mir am 9.5. gesprochen mit "Mensch gibt es nur im Plural. Menschen werden geboren, nicht gemacht... Wir sind durch andere wir selbst." Das ist meiner Meinung nach das zentral Menschliche ("animal sociale"). Wir stehen ständig in mannigfachen Bezügen zu Mitmenschen, und wir gehen dabei sogar über die zeitgleich mit uns Lebenden hinaus. Wir sprechen heute noch mit Hochachtung von Menschen, die seit mehr als 2000 Jahren tot sind und beachten, was sie geschrieben haben. Für mich wird ein Mensch erst dadurch zur Person. Erst durch das Wirken auf andere tritt er in Erscheinung. Ein Mensch, der auf keine Menschen wirkt, der niemandem bekannt ist, mit niemandem Kontakt hat, mag zwar aussehen wie ein Mensch, mag 2 Beine haben und 2 Arme, mag schöne Ohren haben, und auch 2 klar blickende Augen, aber das alles hilft ihm nichts, er wäre kein Mensch, kein richtiger Mensch. Ein Mensch wird erst zur Person durch ein Gegenüber, durch eine Bezugsperson, die Antwort gibt, die ihn berührt, ihn fordert, ihn bewegt. Traurig, unendlich traurig ist uns das Schicksal der Verwahrlosten, der Unglücklichen, denen ein solcher Bezug versagt blieb durch einen grausamen Zufall - was in früher Kindheit versäumt wird, kann später kaum mehr nachgeholt werden (siehe P.J. Blumenthal: Kaspar Hausers Geschwister, Piper 2003).

    Es leuchtet mir nicht ein, warum Sie immer wieder darauf hinweisen, jeder Mensch sei zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz immer schon eine Person. Meiner Meinung nach ist das ganz einfach nicht der Fall. Ich finde, daß man vor der Geburt zwar ab einer bestimmten Entwicklungsphase schon von charakteristischen Verhaltensweisen sprechen kann - die Mutter spürt bereits Bewegungen des Ungeborenen, und wir wissen inzwischen, daß schon vor der Geburt akustische Reize wahrgenommen werden; aber in den ersten Tagen und Wochen nach der Empfängnis schon von einer "Person" zu sprechen hielte ich für verfehlt (ich weiß allerdings nicht, ob sich Ihre Aussagen auch auf eine so frühe Zeit beziehen). Solche "Personalisierungen" sind immer nur im Rückblick möglich. Natürlich würden wir alle uns dagegen verwahren, unsere eigene Existenz oder die Existenz uns bekannter Mitmenschen vor einem bestimmten Zeitpunkt unserer (bzw. derer) Lebensgeschichte zu "heranreifendem Leben" herabstufen zu lassen. Diese Empörung wäre aber nur aus der rückblickenden Perspektive berechtigt. Ich hielte es für falsch, sich um die Personenrechte eines 4 Wochen alten menschlichen Föten Gedanken zu machen, über den man (sieht man einmal von der Genausstattung, die man womöglich z.T. bereits feststellen könnte, ab) noch so gut wie nichts aussagen kann, von einer Wirkung auf Mitmenschen ganz zu schweigen.

    Selbstverständlich muß es dabei um die Person von Mutter und Vater gehen, aber was aus dem Embryo wird, das bleibt erst einmal abzuwarten. Er findet sicher als Möglichkeit in der Lebensplanung der Eltern vorausschauende Berücksichtigung, aber man kann von ihm noch nicht als von "Jemandem" sprechen. Kein Mensch kann sich ihm gegenüber auf bestimmte Weise verhalten, niemand kann ihn berühren, ansprechen, seine Reaktion beobachten, ja meist kann man "ihn" nicht einmal sehen, zumindest nicht so ohne weiteres. Gerade in einem gesamt-menschlichen Bezugszusammenhang muß es seltsam anmuten, im Bauch einer Schwangeren, die noch nicht einmal sicher ist, schwanger zu sein, ein "Selbst", eine "Person", einen "Jemand" zu vermuten. Nur ein aggressiver Szientismus kann uns über die Existenz eines solchen winzigen Wesens mit Hilfe diagnostischer Verfahren überhaupt Gewißheit verschaffen, aber nicht die einfache menschliche Anschauung.

    Ich stehe auf dem Standpunkt daß alle Wesen, die sich einer direkten Interaktion entziehen, nicht von dieser unserer natürlichen Welt sind, sondern eher einem "Geisterreich" angehören. Dort mögen die noch nicht Geborenen schweben, solange sie (oft sehnlichst) nur erwartet werden, aber noch nicht Realität sind. Ein Mensch beginnt als Person zu sein, wenn man zum ersten Mal etwas von ihm selbst bemerkt; er wird dann zuerst für die Mutter zur Person, und das durchaus schon vor der Geburt, warum nicht. Endgültig "Jemand" wird er erst wenn er geboren ist und begonnen wurde, mit ihm umzugehen, im engsten Familienkreis zunächst, und später in größeren sozialen Zusammenhängen.

    Dieses "Selbst" ist also nichts, was dem jeweiligen Wesen ganz allein zu eigen ist, sondern es ist ein kollektiv zustande gebrachter Wert. Jeder "gelungene" Mensch ist ein hoher Wert, an dem viele mitgewirkt haben einschließlich der Vorfahren die gar nicht mehr am Leben sind; leider gibt es auch "mißlungene" Menschen (mit dem einzigen Trost und der einzigen Hoffnung, daß sie doch noch "gelingen" könnten, bevor der Tod sie endgültig mißlingen läßt).

    So sehe ich also den Person-Begriff als etwas Dynamisches und  Fließendes, und nicht als etwas Statisches das sich in Raum und Zeit festmachen ließe. Beim menschlichen Personbegriff steht für mich das Interpersonale im Zentrum. Wir kommen überhaupt nur durch die permanent praktizierte interpersonale Interaktion dazu, Person zu werden und zu bleiben. Am 9.5. haben Sie (schon etwas unter Zeitdruck) mit der Aussage geendet: "Wir sind durch andere wir selbst; daher ist auch unsere Angst so groß vor Lieblosigkeit." Wir schenken einander Beachtung, reagieren aufeinander, beeinflussen einander, uns bedeutet der Eindruck, den andere von uns haben, und die Meinung die andere über uns haben sehr viel. In diesem Sinne sind wir Person, sind Akteure im sozialen Kontext, verletzlich, oft eitel, aber auch mitfühlend; fühlen uns vielfach reflektiert in den anderen und freuen uns, wenn andere unsere Kommunikationsbemühungen würdigen. Als "höhere Ebene" bildet sich etwas "Transpersonales" heraus, zu dem wir alle als Personen beitragen, und das unser eigenes begrenztes Dasein als Person überdauert. Den Blick zu sehr zu fokusieren auf die Person an sich hielte ich für wenig fruchtbringend. Viel interessanter ist das, was langfristig von vielen Personen getragen wird. Einzelpersonen sind eher verzichtbar als das Ganze.

Zusammenfassend: (1) In einer frühen Phase der humanen Ontogenese gibt es einen Zeitraum, in dem der Mensch noch keine Person ist. (2) Selbstpräsenz wird sehr wohl begründet, muß sogar begründet werden: durch den Kontakt mit einer (selbstpräsenten) primären Bezugsperson; gelingt das nicht, kommt es auch nicht zur Herausbildung einer Selbstpräsenz (zumindest keiner, wie wir sie von "normalen" Menschen kennen). (3) Wir werden selbst zur Person endgültig erst durch die Interaktionen mit anderen Personen, wodurch uns ein Platz im sozialen Beziehungsgeflecht zufällt.

(2)

    Weder bin ich zufrieden mit dem "Nichts" als Ende, noch mit dem "Nichts" als Anfang unseres jeweils persönlichen Daseins. Auch wenn sich damit noch so schön "ein Kreis schließt": "Nichts" bleibt "Nichts", umso schlimmer, wenn wir damit im Kreis gehen.

    Wie schon zuletzt von mir ausgeführt, erscheint mir unser jeweils persönlicher Anfang keineswegs in einem eher nebulosem "Nichts" zu liegen, sondern ganz konkret in der jeweils uns persönlich begegnenden primären Bezugsperson. Ich bleibe bei meinem, Ihnen vielleicht biologistisch erscheinenden Standpunkt, daß Persönlichkeit, wie sie von uns als arttypisch menschlich empfunden wird, ohne Prägung durch eine primäre Bezugsperson nicht möglich ist. Damit gründen wir keineswegs auf "Nichts", sondern auf dieser jeweiligen Bezugsperson, die ihrerseits ebenfalls auf der jeweiligen seinerzeitigen Bezugsperson gründet (in aller Regel handelt es sich bei diesen Personen um unsere Mutter und um unsere Großmutter mütterlicherseits, um es "extrem-biologistisch" auf den Punkt zu bringen).

    Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Lebensende. Auch hier stehen wir vor keinem "Nichts", wie persönlich und je-eigen das auch immer aufgefaßt werden mag, sondern vor der Gewißheit, daß die vielfältigen Interaktionen, die wir zu Lebzeiten gepflogen haben, sich durch das Ende unseres eigenen Lebens nicht in Nichts auflösen werden, sondern in der einen oder anderen Form weiter wirken werden. Das kann dadurch geschehen, daß wir selbst als primäre (oder zusätzliche) Bezugsperson fungieren, aber auch dadurch, daß wir unsere ureigenen Gedankengänge anderen zum Nachvollzug mitgeteilt haben und/oder uns auf eine der Gemeinschaft nützliche Art und Weise verhalten haben.

    Ich finde es sehr bedenklich, den Ausdruck "Nichts" zu sehr zu strapazieren, und ganz und gar inakzeptabel, gar von einer "lautlosen Macht des Nichts" zu sprechen. In meinen Augen ist das nicht nur heller Unsinn, sondern sogar leichtfertiges Heraufbeschwören vielfältiger Gefahren. Ich war beruhigt zu hören, daß der von mir sehr geschätzte Wucherer einer solchen Diktion (wenn ich Sie richtig verstanden habe) ebenfalls skeptisch gegenübersteht. In diesem Zusammenhang besteht meines Erachtens ein berechtigter "horror vacui": Die auf diese Weise leer gelassene Stelle wird nur zu bereitwillig durch alle möglichen und unmöglichen Dinge besetzt, die sich dann genüßlich dort breitmachen, wodurch jede Menge Unheil angerichtet werden kann. Ich vermute, daß schon von so manchem Autor auf diesem Umweg versucht wurde, Gott ins Spiel zu bringen (ohne allerdings belesen genug zu sein, mit Beispielen dienen zu können).

    Es ist natürlich sinnvoll und wichtig, darauf hinzuweisen, das jeder von uns nicht aus persönlichem Verdienst und auf aktives Betreiben in die Welt gekommen ist; das ist ja eine zentrale menschliche Grundverfaßtheit. Man sollte dann aber in einem nächsten Schritt unsere Herkunft als Person nicht in ein nebuloses Dunkel abschieben, sondern offen benennen: Es gab ein erstes "Ur-Du", das uns erst zu einem "Ich" gemacht hat, und dieses "Ur-Du" war eine konkrete Person aus Fleisch und Blut. Wir verdanken uns dieser Person, so wie diese Person sich selbst einer anderen Person verdankt, usw usf. Damit setzen wir uns in Bezug zur Gemeinschaft, der wir letztlich unsere Präsenz als unverwechselbare Person verdanken. Unsere Konklusion aus diesem Wissen sollte Bescheidenheit sein und letztlich die Bereitschaft, auch unsererseits etwas für diese Gemeinschaft zu tun.

    Die Beschreibung dieser Zusammenhänge erinnert nicht zufällig an religiöse Diktion. Letztlich weist alle Religion den Menschen hin auf seine Grenzen. Die Religionen unterscheiden sich voneinander durch den Grad der Emanzipation des Menschen von postulierten Instanzen. So wie ich das Christentum verstehe, ist hier diese Emanzipation ziemlich weit fortgeschritten. Hier ist Gott sogar Mensch geworden und hat eine Mutter (!).

2/08  <        MB (6/08)          > 7/08
Religion