Neuropsychologische Theorie der Alzheimer-Krankheit: Beugen Kreativität und Selbstentfaltung vor?

Ohne überzeugenden Erfolg wird schon lange nach einer äußeren Ursache für die Alzheimer-Krankheit gesucht. Vielleicht sollten wir uns den Kopf eher über innere Ursachen zerbrechen?
Neuro-Psychiatr. Nachr. 12/2001, 14
Die neuronalen Netzwerke in unserem Gehirn unterliegen einem dynamischen Prozeß: Mit zunehmender Lebenserfahrungen nimmt die Größe der Dendritenbäume unserer Neuronen zu, neue Synapsen werden gebildet und alte Synapsen verstärkt oder auch geschwächt. Bei der Alzheimer-Krankheit (ALZ) findet man eine Reduktion der synaptischen Kontakte und des dendritischen Verzweigungsgrades, vor allem bei den äußersten Abschnitten (Selkoe 1992). Es wurde spekuliert (Reisberg et al. 1999), daß die Ausbildung von Verzweigungsbäumen in ALZ-Patienten parallel zum fortschreitenden Verlust von Fähigkeiten rückläufig ist.
So könnte man auch vermuten, daß ALZ Folge einer bestimmten Denk- und Verhaltensstrategie ist, an die man sich von frühester Jugend an gewöhnt. Vielleicht führt diese Strategie zwar zu einer reichhaltigen Verzweigung von Dendritenbäumen, aber ohne weiträumige Systematik in der Struktur und ohne Verstärkung wichtiger Verzweigungspunkte. Im Prinzip könnte sie in der enzyklopädischen Ansammlung von Eindrücken und Erfahrungen bestehen, ohne den Versuch, sie zu verstehen oder zu beeinflussen. Das beginnt in frühester Kindheit, wenn neugierige Fragen nicht geeignet beantwortet werden, und setzt sich in einem Schulsystem mit Frontalunterricht und Auswendiglernen fort.
Was geschieht in unserem Gehirn, wenn wir unsere eigenen Hypothesen bilden? Vor allem werden dabei viel mehr Neuronen beschäftigt als beim Ausführen eines Befehls oder beim Nachsprechen eines Satzes. Außerdem bleiben Spuren kreativen Denkens in unseren neuronalen Netzwerken zurück. Diese Aktivitätsmuster können später reaktiviert werden, und wir können sie weiter ausbauen. Was geschieht in unserem Gehirn bei ALZ? In einem Gehirn, das sich nie daran gewöhnt hat, kreativ zu denken, werden Probleme nur kurzfristig ohne autonome Lebensperspektive gelöst. Zur Selbsterhaltung in freier Interaktion mit der physischen und der sozialen Umwelt wurden keine Langzeit-Strategien ausgearbeitet. Wenn dann, z.B. durch den Tod des Lebenspartners, ein Eckpfeiler der Lebensroutine verloren geht, ziehen sich die dendritischen Verzweigungen (da sie nicht mehr "beschäftigt" werden) zurück auf eine tiefer liegende Sphäre, wo sie ein Muster von Impulsen vermitteln, das dem verlorenen Muster nicht mehr ähnlich ist. Es wird deshalb schwierig sein, zurückgenommene Verzweigungen in neuronale Aktivität einzubinden. Dadurch schreitet ihre Rückbildung bis zum katastrophalen Zusammenbruch von Dendritenbäumen als histopathologische Begleiterscheinung von ALZ fort.
In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen wurden in einer Studie am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Wien (Kropiunigg et al. 1999) als psychologische Risikofaktoren für ALZ ein aktiver, aber unproduktiver Arbeitsstil und das Zusammenleben mit einem dominanten Lebenspartner identifiziert. Protektive Faktoren hingegen waren ein hohes Selbstwertgefühl und die Arbeit im Wunschberuf. An der Psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg (Bauer et al. 1995) wurden unter ALZ-Patienten gehäuft Personen mit einer konfliktvermeidenden, sich unterordnenden Persönlichkeit gefunden. Noch vor Einsetzen erster neuropsychologischer Symptome zeigten ihre Biographien ein Muster einer fürsorglichen Bevormundung, Behütung und Einengung seitens dominierender Bezugspersonen.
Allerdings findet sich bei ALZ nicht nur eine Verarmung dendritischer Verzweigungen, sondern in bestimmten Bereichen des assoziativen Kortex kommt es auch zum Absterben von Nervenzellen. Am schnellsten ist der entorhinale Kortex betroffen (Braak & Braak 1991), die Schnittstelle zwischen assoziativem Kortex und limbischem System. Dort werden unsere Gedanken "emotional eingefärbt" und darüber entschieden, ob wir ihnen Aufmerksamkeit schenken oder nicht. Der irreversible Ausfall von Neuronen direkt in dieser für den Entwurf von Lebensstrategien zuständigen Schaltzentrale könnte den "point of no return" in der Anamnese der ALZ darstellen.
Doch was könnte man tun gegen ALZ? Nachdem keine realistische Therapie in Sicht ist, muß die Devise lauten: Vorbeugung. Wir dürfen unser Gehirn nicht enzyklopädisch mit  Information überfluten, ohne innere Struktur und logischem Aufbau. Wir müssen unsere Kinder zu ihren eigenen Gedanken ermuntern und ihnen erlauben, ihre eigenen inneren Welten zu bauen mit allen Konsequenzen für Schulwesen und Kommunikation. Und wir sollten kritisch hinterfragen, ob das Klima in unserer Gesellschaft  zu einem autonomen und selbstbewußten oder zu einem angepaßten und unmündigen Verhalten ermutigt.
7/00 <         MB 10/00          > 1/01
J.Bauer, G.Stadtmüller, J.Qualmann, H.Bauer (1995) Prämorbide psychologische Prozesse bei Alzheimer-Patienten und bei Patienten mit vaskulären Demenzerkrankungen. Zeitschrift f. Gerontologie & Geriatrie 28, 179-189.

H.Braak & E.Braak (1991) Neuropathological staging of Alzheimer-related changes. Acta Neuropath. 82, 239-259.

U.Kropiunigg, K.Sebek, A.Leonhardsberger, M.Schemper, P.Dal-Bianco (1999) Psychosoziale Risikofaktoren für die Alzheimer Krankheit. Psychother.Psychosom. Med.Psychol. 49, 153-159.

B.Reisberg, E.H.Franssen, S.M.Hasan, I.Monteiro, I.Boksay, L.E.Souren, S.Kenowsky, S.R.Auer, S.Elahi, A.Kluger (1999) Retrogenesis: clinical, physiologic, and pathologic mechanisms in brain aging, Alzheimer’s disease and other dementing processes. Eur.Arch.Psychiatry Clin.Neurosci. 249 Suppl 3, III/28-36.

D.J.Selkoe (1992) Alterndes Gehirn - alternder Geist. Spektr.d.Wissensch. Nov 1992, 124-132.