Freud im Lichte der Genetik |
E-mail-Debatte zwischen Eveline List (Geschichtsphilosophie) und Michael Berger (Hirnforschung) im Rahmen des Seminars Psychoanalytische Kulturtheorie |
Liebe Frau List, |
...ich moechte verstehen, moechte begreifen, was es mit der Psychoanalyse auf sich hat... Das Inzest-Tabu... Rein biologisch gaeb's da kaum ein Problem, wir kennen genug voellig gesunde Kinder aus solchen Verbindungen, und von ein paar Auswuechsen in adeligen Kreisen muesse man halt absehen, das faellt statistisch kaum ins Gewicht. Hab ich Sie da richtig verstanden? |
Ich glaube, es ist unbedingt notwendig, 2 Dinge auseinanderzuhalten. Da ist einerseits unsere Psychologie, unsere Verhaltensweisen, was wir tun und wie wir uns dabei fuehlen. Und beim Thema Inzest mag es schon zutreffen, dass hier etwas Naheliegendes, Einfaches, Ersehntes, Beglueckendes nur durch ein besonders strenges Gesetz unterbunden werden kann. Je groesser der Wunsch, desto strenger das Gesetz. Leuchtet mir ein. Das ist aber erst eine Seite der Medaille. Voellig unbeantwortet bleibt dabei, warum wir diese Regelung einer Verhaltensweise entwickelt haben, warum es bei allen Voelkern ein Inzestverbot gibt. Wir haben begonnen, ueber moegliche psychologische Mechanismen zu sprechen, aber wir sollten auch ueber die Ursachen sprechen. |
Wenn man ueber die moeglichen Ursachen nachdenkt, muss man in der Evolution sehr weit zurueckgehen, weit ueber die Anfaenge des Menschen hinaus. Eigentlich muss man nach den Ursachen fuer Sexualitaet allgemein fragen, und die gibt es sogar schon bei Bakterien. Das hat also mit komplexem Verhalten gar nichts zu tun. Es geht dabei schlicht um Genetik und Statistik, um den ewigen Wettkampf verschiedener Spezies gegeneinander, um die Geschwindigkeit der Entwicklung, um die Flexibilitaet unseres genetischen Bauplans. Ja, so weit muss man zurueckgehen, wenn man das verstehen will. |
Wir Menschen besitzen einen doppelten Chromosomensatz, wie viele andere Lebewesen auch. Jedes Gen liegt 2 Mal vor. Oft wird nur eines der beiden abgelesen, das andere "schweigt", ist aber nicht fuer alle Zeiten weg vom Fenster, kann in spaeteren Generationen durchaus wieder "das Wort ergreifen". Man koennte diese "schweigenden Gene" durchaus mit Freud's Vorbewusstem vergleichen, aber jetzt eben nicht im Bezug auf ein Individuum, sondern in Bezug auf eine ganze Art. Irgendwann im Verlauf der Evolution sind diese heute schweigenden Gene ausprobiert und fuer gut befunden worden (denn sie haben ja ueberlebt), wurden aber schliesslich von anderen Genvarianten in den Hintergrund gedraengt. Unser Genpool wimmelt von solchen Varianten. Was haben wir davon? Warum tun sich das so viele Spezies dieser Welt an? Das ist doch ein irrer Mehraufwand, alle Gene doppelt zu synthetisieren, von den komplizierten Verdoppelungs- und Ueberkreuzungs- Mechanismen ganz zu schweigen! |
Der Vorteil ist, dass es eine Unzahl von vererbten, bereits im Evolutionsprozess optimierten Eigenschaften quasi in Reserve gibt. Die "schweigenden" Gene, die scheinbar so ueberfluessigen Doubletten und Tripletten sind unser "genetisches Gedaechtnis", eben unser genetisches "Vorbewusstes", wenn Sie so wollen. Diese Reserve kommt immer dann zum Einsatz, wenn es massiv ans Selektieren geht, d.h. wenn die Art durch eine Bedrohung, eine Gefahr unter Druck geraet, wie es in den letzten Millionen und Abermillionen von Jahren immer wieder passiert ist (vielleicht kann man die HIV-Pandemie als juengstes Beispiel dafuer betrachten, obwohl das eigentlich nur ein Klax ist). Bei vielen dieser Bedrohungen ging es tatsaechlich "ans Eingemachte", d.h. ein signifikanter Teil der Population verschwand und nur ein kleiner Teil hat ueberlebt. Warum hat ein Teil ueberlebt? Weil unsere Art "ausweichen" konnte, weil unser inneres Programm nicht nur auf einem einzigen Satz von Funktionselementen beruht, sondern weil es unzaehlige "schlafende" Alternativelemente gibt. Wir verfuegen in unserem Genpool ueber eine gewaltige Anzahl von "Notfallprogrammen", die alle irgendwann waehrend unserer Evolution einmal fuer etwas gut waren, spaeter aber "schlafend" gestellt wurden. Wir sind schliesslich auch nicht staendig mit Helm und Gurt unterwegs. Aber wir wissen sie anzulegen, wenn es not tut. |
Wie verhaelt es sich nun aber mit diesem leidigen Inzestverbot? Was steckt dahinter? Dahinter steckt nichts Psychologisches oder gar Kulturelles. Seine Auspraegung, die ist psychologisch und kulturell, sicher. Aber man muss auch ueber Ursachen reden, ueber echte Ursachen. Und in diesem Zusammenhang muss man einfach ein paar grundlegende genetisch / biologische Dinge ueber sexuelle Fortpflanzung sagen. Man kann das nicht einfach vom Tisch wischen mit ein paar Bemerkungen: Naja, die Kinder aus inzestuoesen Verbindungen sind eh ganz normal, und die Adelsfamilien bringen zum groessten Teil grossartige Menschen hervor, und die paar Missbildungen und seltenen Zwischenfaelle, die es halt auch gibt, fallen ueberhaupt nicht ins Gewicht, gibt es fast genauso oft auch bei nicht-inzestuoesen Verbindungen. So darf man einfach nicht argumentieren, darum geht's ueberhaupt nicht. Es geht um die staendige Durchmischung des Genpools. Es geht darum, einen moeglichst grossen und gleichzeitig moeglichst heterogenen Genpool zu schaffen. Das hat NUR langfristige Perspektiven, UEBERHAUPT KEINE kurzfristigen. Insofern gebe ich Ihnen recht: Inzest hat keine akuten nachteiligen Folgen, zumindest keine besonders gravierenden. Aber in diesem Zusammenhang geht's eben nicht um die kurzfristigen, sondern nur um die langfristigen Folgen. Nur weil es diese langfristigen Folgen gibt, nur deshalb kennen alle Voelker und Rassen das Inzest-Verbot. Das hat etwas mit Millionen von Jahren an Menschheitsgeschichte und Hominidengeschichte und Primatengeschichte zu tun. Dieser Verhaltenszug muss eine biologische Basis haben. |
Diese Dinge muss man also auseinanderhalten: Auf der einen Seite der Phaenotyp des Verhaltens, die Expression, die Umsetzung; auf der anderen Seite die zugrundeliegende Biologie. In unserer an der Wissenschaft orientierten Zeit sind solche Argumente sehr wichtig und traditionsmaechtig. Wenn wir sagten, fuer das Inzestverbot gaebe es keinen objektiven Grund, und wir wuerden uns das nur einreden, in Wirklichkeit koennten inzestuoesen Verbindungen sehr wohl muntere, normale, glueckliche Kinder entspringen... Okay, ich glaube, das haben Sie so nicht gesagt, aber Sie nennen ausschliesslich "psychologische" Gruende, warum aus solchen Verbindungen eben keine munteren, normalen, gluecklichen Kinder entspringen koennen. Wir sollten aber unbedingt auch die biologisch / genetischen Gruende nennen, warum eine Herausbildung dieses Verhaltens von der Evolution beguenstigt wurde: weil naemlich auf diese Weise eine Verteilung moeglichst vieler Gene in einem moeglichst grossen Genpool erreicht wurde. Damit hatten Sozietaeten, die dieses Verhalten zeigten, einen Selektionsvorteil gegenueber Sozietaeten, die es nicht zeigten. Die Folge davon: Erstere haben ueberlebt, letztere nicht. Und am Schluss sind nur noch solche Sozietaeten uebrigbeblieben, die ein Inzestvebot hatten. So banal und einfach ist das. |
Dass sich jetzt Leute wie Freud den Kopf darueber zerbrochen haben, wie das im Detail psychologisch funktionieren koennte, das ist eine andere Sache, fuer sich betrachtet auch hochinteressant. Aber es ist von einer anderen Bedeutung, hat ein anderes Gewicht. |
Man koennte jetzt natuerlich darueber diskutieren, ob die gleichen Gruende, die seinerzeit Sozietaeten mit Inzestverbot einen Selektionsvorteil verschafft haben, auch heute noch gelten. Krankheiten, Umweltbedingungen, Parasiten, Viren, all das, was eine Art dezimieren und an den Rand des Aussterbens draengen kann: droht uns das auch noch heute? Oder morgen? Koennten wir heute ohne Gefahr auf ein gruendliches Durchmischen unseres Genpools verzichten? Was wuerde passieren, wenn wir - rein theoretisch - versuchen wuerden, dieses Inzestverbot aufzugeben? Koennten wir das ueberhaupt? |
Ist es das, was uns Freud sagen will: das wir das gar nicht mehr koennten, ohne Gefahr zu laufen, verrueckt zu werden? Das waere dann eine an und fuer sich sehr interessante Schlussfolgerung. Wir haetten uns dann - aus rein genetisch / biologischen Gruenden zunaechst - ein Verhalten angewoehnt, das zu einer geistig / kulturellen Entwicklung gefuehrt hat, die praktisch unumkehrbar ist... |
MB 4/05 |
Lieber Herr Berger, |
haben Sie vielen Dank für Ihre Überlegungen... gegen die natürlich nichts Prinzipielles zu sagen ist. Allerdings: Sie betreffen nicht wirklich unsere Fragestellung, die eben nicht als biologische gefasst ist. Zugleich unterstützen Ihre Ausführungen doch die Idee der psychosozialen Organisation des Menschen eben auch, oder gerade weil sie darauf beharren, dass diese psychosoziale Dimension in Übereinstimmung mit einem langfristigen 'Programm' steht, von welchem die Menschen freilich nichts zu wissen brauchen, und das auf der Ebene der individuellen Motivation, oder auch der sozialen Dynamik keine - oder bestenfalls eine extrem vermittelte - Rolle spielt. Das bedeutet natürlich nicht, dass Überlegungen zum 'Programm' keinen Raum haben, sondern nur, dass wir sie realistischer Weise bestenfalls als Hintergrundaspekt beachten können. Für das Verstehen der Psychoanalyse bewegen wir uns freilich besser in anderen historischen Dimensionen, als jenen der langfristigen Evolutionsgeschichte, obwohl Spekulationen in diese Richtung der Psychoanalysegeschichte durchaus nicht fremd sind. Sigmund Freud hätten Ihre Gedanken übrigens gewiss gefallen... |
EL 4/05 |
Liebe Frau List, |
... dass viele Menschen gerade von diesen 'langfristigen Programmen' fasziniert sind. Wir leben in einer von der Wissenschaft - speziell von der Naturwissenschaft - faszinierten Zeit. Naturwissenschaftliche Erklaerungen fuer eine unserer Verhaltensweisen, selbst wenn sich die zugrunde liegenden Vorgaenge - kaum konkret nachvollziehbar - ueber die letzten Jahrmillionen verteilen, haben aufgrund ihres wissenschaftlichen Gewichts grossen Einfluss. Ueberspitzt ausgedrueckt: Wenn ich verstehen kann, wie das Inzestverbot zum Ueberleben unserer Art beigetragen hat, dann halte ich mich noch viel ueberzeugter daran... Die Menschen haben grosse Ehrfurcht vor 'gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen'. Solche 'Tatsachen' koennen fuer die individuelle Motivation durchaus wichtig sein. Es hat einfach eine starke Ueberzeugungskraft... als sehr einflussreicher Aspekt, nicht nur beilaeufig im Hintergrund. |
Noch einmal: Bei den Ueberlegungen zu den Vorteilen der genetischen Vielfalt in einem moeglichst grossen Genpool handelt es sich nicht um Spekulationen, sondern um gesichertes Wissen der Genetik (die nicht einmal mein Fachgebiet ist, ich hab darueber halt in Vorlesungen und Vortraegen gehoert). Die Psychoanalyse ihrerseits - so wie ich sie inzwischen verstehe - darf sich allerdings mit Recht fragen, wie sich in der menschlichen Spezies bestimmte Verhaltensweisen etablieren konnten, die es uns erlaubt haben, die geschilderten genetischen Vorteile vermehrt zu nutzen; wie es moeglich war, dass bestimmte Verhaltensweisen sich so lange halten konnten. Offenbar haben sie sich sehr gut in ein Bild gefuegt, dass wir versuchen koennen, besser zu verstehen. |
Es gibt ein schoenes Buch von Geoffrey Miller: 'The Mating Mind'. Vielleicht haben Sie schon davon gehoert? Er baut damit auf Darwin auf und erklaert viele Verhaltensweisen als Produkt der sexuellen Selektion, bei Tieren so wie beim Menschen. Bei Maennchen koennen auf diese Weise alle moeglichen, scheinbar voellig sinnlosen Merkmale herausselektioniert werden, Hauptsache sie kosten das Maennchen eine gewisse Investition, die nicht jeder im gleichen Ausmass leisten kann. Dann zeigen jene Maennchen mit der groessten 'fitness' (wie das die Evolutionsbiologen nennen) die groessten Ueberschussenergien, die sie auch fuer so manchen Bloedsinn verpulvern koennen (der Pfau fuer sein tolles Rad; der Angeber fuer seinen Ferrarri). Und darauf fahren dann die Weibchen ab. Ueber diesen Mechanismus kann sich praktisch jedes auch noch so schwachsinnige Merkmal herausbilden, es sei denn es fuehrt zum Aussterben der Spezies (was aber sicher auch immer wieder passiert ist), auch Verhaltensmerkmale. So haben sich z.B. bei verschiedenen menschlichen Sozietaeten verschiedene Verhalten herausgebildet, nicht nur aufgrund biologischer Mechanismen, sondern auch aufgrund kultureller Mechanismen. Das war immer schon so, seit der Mensch kummuniziert, seit es Tradition und Kultur gibt. Dadurch ist im Bereich von Kultur und Tradition weltweit eine bunte Vielfalt entstanden, und im Einzelfall liesse sich heute kaum mehr rekonstruieren, warum und wieso, von 'Selektionsvorteilen' ganz zu schweigen. |
Aber es gibt eben bestimmte Verhalten, die sich immer wieder als 'Volltreffer' erwiesen haben, nicht nur in einer Sozietaet, nein, in vielen, in praktisch allen. So wird vermutlich auch die Vermeidung des Inzest urspruenglich nur eine Verhaltensmarotte wie so viele andere gewesen sein, ein Zufallsprodukt, eine Laune. So wie irgendein anderer Bloedsinn auch, wurde das Verhalten tradiert, im Rahmen der sexuellen Selektion: Frauen waehlten Maenner, die das Abenteuer auf sich nahmen, fern der Heimat auf Brautschau zu gehen. Das war sicher ein teurer, aufwendiger Spass, den sich nur die besten, kluegsten, staerksten, mutigsten leisten konnten, also ein hervorragender 'fitness'-Indikator. Und wie es der Zufall wollte: Genau das brachte der speziellen Sozietaet auf lange Sicht (viele Generationen) auch tatsaechlich einen Vorteil, aus genetischen Gruenden, weil sie Krankheiten und Katastrophen besser ueberstand als andere. |
Und dann ist offenbar noch viel mehr passiert, wie uns Freud lehrt. Um das auch wirklich zu verstehen, werde ich mir noch viel Muehe geben... |
4/05 < MB 4/05 > 4/05 psychoanalysis |
siehe auch: What we are dreaming of (in English) |