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Marc Chagall: Tamar Belle-Fille de Juda (Zeller)

Eiertanz

Heute las ich im Standard ein Interview mit einem Bordell-Besitzer. Online bekommt man zusätzlich ein paar Eindrücke aus dem entsprechenden Etablisment geliefert, garniert mit zahlreichen leicht bekleideten Damen. Auch der eine oder andere Kunde durfte ins Bild, aber natürlich unkenntlich von hinten.
Seit Jahren steigen in mir drängende Fragen auf, jedesmal wenn mir medial dieses Thema vorgesetzt wird, bleiben aber so nebulos, dass es mir nicht einmal gelingen will, sie zu formulieren, von möglichen Antworten ganz zu schweigen. Ob es mir unter dem frischen Eindruck dieses Beitrags endlich einmal gelingt? Mit diesem Thema verhält es sich wie mit einer Wohnung, in der seit Jahren nicht aufgeräumt und nicht sauber gemacht wurde: Man weiß nicht, wo man anfangen soll. Was immer man berührt, scheint das Chaos nur größer zu machen.
Also fangen wir ganz vorne an, im Alten Testament. Juda, einer der 12 Söhne Jakobs und Stammvater eines der 12 Stämme Israels, sollte man sich eigentlich als rechtschaffenen vorbildlichen Mann vorstellen, oder? Man lese nach und staune. Gut, dem armen Mann war eben seine Frau gestorben. Nachdem er ausgetrauert hatte, verließ er den Ort, um sich um seine Schafe zu kümmern. Am Wegrand sieht er eine Frau, die er für eine Hure hält, weil ihr Gesicht verdeckt ist. Und er zögert nicht lange, nimmt die Gelegenheit wahr, einigt sich mit ihr über den Preis und "kommt zu ihr" (an Ort und Stelle).
Interessant, nicht wahr? Aber es kommt noch besser: Genau diese Frau bringt man nämlich nach einiger Zeit vor ihn, denn sie ist in Wahrheit seine Schwiegertochter, als dieselbe er sie nicht erkannte (denn ihr Gesicht war ja verdeckt). Man bringt sie mit der Anklage zu ihm, sie hätte "gehurt" und wäre jetzt schwanger, mit der logischen Konsequenz, dass sie zur Strafe verbrannt werden müsse (es ist natürlich komplizierter, aber lesen Sie selbst).
Alle unbequemen Fragen, die bei diesem Thema in mir auftauchen, sind auch schon in dieser uralten Geschichte präsent. (1) Juda tut etwas, wofür er sich zunächst einmal nicht sonderlich schämen muss. Unehrenhaft hätte er nur gehandelt, wenn er den ausgehandelten Preis nicht bezahlt hätte. (2) Zu schämen hat sich nur die Frau, die zur Wahrung ihrer Anonymität das Gesicht bedeckt. (3) Lassen sich die Folgen nicht mehr verheimlichen, ist es wieder die Frau, die die ganze Härte der Strafe trifft.
Das ist es, was mich an diesem Thema stört: Es ist zur gleichen Zeit etwas erlaubt und etwas verboten. "Verboten" ist eigentlich nicht das richtige Wort. Heute wird niemand mehr verbrannt. Trotzdem wollen die Kunden nicht gesehen werden. Offensichtlich schämen sie sich. Warum eigentlich? Sie tun nichts Verbotenes. Trotzdem drängen wir per Gesetz die dienstbaren Damen an den Rand des öffentlichen Raums. Damit sie das Stadtbild nicht stören?
Was soll dieser Eiertanz? Schleichen wir durch die Hintertür in ein gutes Lokal, um dort lukullischen Freuden zu frönen? Schämen wir uns, im Warmbad genussvoll in den Whirlpool zu tauchen? Es steht doch außer Zweifel, dass auch die sexuelle Lust besser oder weniger gut vermittelt werden kann. Warum sollen wir dafür nicht bezahlen, was es uns wert ist, genau wie wir auch für ein gutes Menu oder einen schönen Urlaub bezahlen?
Ich komme auch diesmal nur zu weiteren Fragen. Antworten sehe ich kaum. Schon seit Jahrtausenden scheint es sich so zu verhalten.
7/13 <         MB 8/13          > 8/13
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