Carl Djerassi BriefmarkeLabLit.com

Antwort an Djerassi

Lieber Herr Djerassi, unlängst gab es in nature einen news and views Kommentar "Healthy old age" (Nat 455:739), der sich auf einen PNAS-Artikel bezog (Christensen et al. 2008, PNAS 105:13274): "Exceptional longvity does not result in excessive levels of disability". Ich erwähne das deshalb, weil mir bei gründlicher Lektüre Ihres Artikels im Standard vom 13.12.08 "Warum wir bald sehr alt ausschauen" einige Gedanken gekommen sind.
Vielleicht ist Ihre Angst vor dem "Kollaps der Pyramide" unbegründet. Sie, ich, und viele Menschen, die ähnlichen Beschäftigungen nachgehen, wechseln eigentlich nie von der Seite der Tätigen, die die Gesellschaft erhalten, auf die Seite der Untätigen, die von ihr erhalten werden müssen. Bevor wir krampfhaft nach Möglichkeiten suchen, die Altersstruktur unserer europäischen Gesellschaften vor Auswüchsen zu bewahren, sollten wir uns einmal etwas gründlicher mit unserer Arbeitswelt auseinandersetzen, einer Welt, vor der immer noch viel zu viele in eine möglichst frühzeitig einsetzende Untätigkeit fliehen. Würde nämlich dem größten Teil der Bevölkerung diese Arbeit Spaß machen, so hätte wahrscheinlich kaum jemand etwas dagegen, länger als bisher üblich zu arbeiten. Es ist ein Jammer, wie leichtfertig wir nach wie vor auf wertvolle Erfahrung und reiches Wissen verzichten.
Die zentrale Frage für unsere entwickelten Gesellschaften ist die Frage nach der Motivation: Wofür arbeite ich? Wofür bringe ich eine Leistung? Was ist der Sinn meiner Bemühungen, meiner Anstrengungen? Solange es darum ging, die Ruinen nach 1945 zu beseitigen, waren solche Fragen relativ leicht zu beantworten. Aber welche Antworten geben wir heute?
Ich fürchte, die Immigration von Nigerianern, Brasilianern und Indern wird die Probleme unserer "alternden" Gesellschaften in Europa nicht lösen, selbst wenn sie noch so gut organisiert und selektiert abläuft. Unsere Probleme liegen tiefer. Die Sinnfrage wird seit einigen Generationen nur noch recht oberflächlich beantwortet. Ich glaube kaum, daß Einwanderer uns dabei helfen können. Ich fürchte, die Mehrzahl der Einheimischen wird Einwanderer, auch wenn sie gebildet und mit Kenntnissen der Landessprache kommen, als störend empfinden.
Die "Sinnfrage" (was ist das eigentlich?) wurde in allen Kulturen immer wieder gestellt und könnte die Völker auf dieser Welt durchaus friedlich verbinden. Nach meiner Überzeugung hat diese Frage immer mit unserer Integration in eine Gemeinschaft zu tun, über Zeit und Raum. Wir brauchen Orientierungshilfen, um uns in der Welt zu verorten. Ein wesentlicher Parameter ist dabei unsere "kulturelle Identität". Solche Identitäten gibt es; sie sind wie empfindliche Pflanzen, die Pflege und Rücksicht brauchen. Sicher ist der wechselseitige Respekt der Kulturen untereinander ein guter Weg zur Zufriedenheit. Ich glaube, daß Zufriedenheit für jeden Menschen erreichbar ist, und daß es eine Art "Rezept" gibt, wie man zu ihr kommen kann. Dieses Rezept ist gar nicht so kompliziert, daß es nicht jeder finden kann. Man braucht aber dazu einen geeigneten "Raum", eine Gesellschaft, die einem Gelegenheit dazu gibt, das Leben in allen dazu notwendigen Dimensionen zu führen. Jemand, der seine angestammte Gesellschaft - aus welchen Gründen auch immer - verlassen muß und gezwungen ist, in der Fremde ein neues Leben aufzubauen, ist der Gefahr ausgesetzt, den Raum, in dem er sich verorten muß, zu verlieren. Entweder gelingt es ihm/ihr, die Verbindung zu seinen/ihren Wurzeln zu erhalten; oder er/sie schlägt neue Wurzeln (vielleicht kann man sich sogar global verwurzeln, was ich jedoch für ziemlich nebulos halte).
Kulturelle Identität - wie pflegen wir sie heutzutage? Immer weniger. Wir geben sie stückchenweise preis. So sehr ich den europäischen Einigungsprozeß schätze als Friedenserhalter und Vernunftbringer, so sehr bedaure ich z.B. den Verlust der unterschiedlichen Währungen; ich empfinde ihren Verlust als genauso beklagenswert wie das Aussterben einer Tier- oder Pflanzenart. Das Verschwinden der Grenzen in Europa ist eigentlich nicht nur ein Zuwachs an Bequemlichkeit, sondern auch ein Verlust an historisch gewachsener Struktur. Warum soll ich nicht innehalten, wenn ich z.B. von Österreich nach Deutschland oder nach Italien wechsle und mir wenigstens Rechenschaft darüber ablegen, daß ich jetzt von einer "Volkswirtschaft" in eine andere gelange, am besten symbolisiert durch ein Zahlungsmittel, dessen Gültigkeit auf einen bestimmten Raum beschränkt ist? Mir persönlich fehlt nicht nur der Schilling, sondern auch die D-Mark, der Franc, und vor allem fehlen mir die patscherten Lire.
Ich finde, wir brauchen nationale Identitäten, Symbole, an denen man komplexe Charaktereigenschaften wenigstens fiktiv festmachen kann, auch wenn sie einem dann doch nur die Gelegenheit geben festzustellen, daß kaum jemand diesem Stereotyp entspricht. Zu diesem Thema gibt es übrigens eine heroische Arbeit aus dem Jahr 2005 (Terracciano et al., Science
310:96, "National character does not reflect mean personality trait levels in 49 cultures").
Mit herzlichen Grüßen,
10/08 <          MB (12/08)        > 4/09
Reply from Carl Djerassi
Lieber Herr Berger, ich hoffe, dass es Sie nicht stört, dass ich diese Antwort auf Englisch schreibe.
In retrospect, I am sorry that instead of just focusing on the demographic problem, I used the limited space in my article to describe also an educational experiment dealing with attracting some highly qualified younger University-trained professionals from a few cities in India, Brazil and Nigeria housing elite universities - three countries that cumulatively will soon have 2 billion people. People immediately assume that I would like to solve all Austrian demographic problems by massive immigration from these countries, which of course is not the case. But I wanted to point out what the aggressive liberalization in the American immigration policy towards well educated professionals from India in the 1960s is having on today's America.
So let us focus on one of the issues you raise - to foster and stimulate the creative energy of older Austrians. I completely agree with this view and have mentioned it often in my talks and interviews, since I practice at age 85 what I also preach.
This will certainly help economically, but it will have ZERO impact on the long term demographic situation in Austria, namely that a country with an average family size of 1.3 - 1.4 children/family MUST in the absence of immigration shrink to a very dangerous extent. This is why I used Bulgaria as an example because that country is roughly the size of Austria, has the same average of 1.3 children per family and roughly 17% of people over 65 (compared to 16% for Austria). Yet that country is estimated to lose 34% of its population by 2050 - the highest decline in the world. Why? Because it is a country that currently attracts no immigrants - a situation that is highly unlikely to change in the next few decades. Indeed, now that Bulgaria is in the EU, there will be an even greater emigration by precisely the type of young people the country urgently needs.
The only reason why Austria is still growing slightly and not suffering the same problem as Bulgaria is its attraction for immigrants. The problem is that this is an unplanned ad hoc, partly illegal, immigration with the majority of the immigrants from the lower economic and educated strata of society and many from countries that culturally are hostile to integration or assimilation. In other words, they solve the quantitative aspects of Austria's demographic dilemma, but not the qualitative ones and thus will likely lead to more rather than less Xenophobia. But in any event, the move in Austria towards a Sun City, Arizona type pyramid is unavoidable by the end of this century. Even if no old person retires and most remain active economically, the shape of this demographic pyramid will not change, only its higher chance for survival.
It would take too much space and too much time, which I currently don't have, to elaborate in more detail on these aspects, but they certainly would merit a wider discussion and should by all means include the argument you have summarized in your e-mail.
I wonder whether there is some venue in Vienna, perhaps an academic one, where one could hold such a panel discussion of these topics combined with an active discussion with the attending public. I will be spending more time in Vienna next year as of March and would be happy to participate if a mutually acceptable date could be found.
Best wishes for the New Year,
Carl Djerassi (12/08)