English version available

symbolische Anordnung der Ballonaggregate und des Zylinders (nicht maßstabsgetreu)

Kostbare Schwerkraft
Wenn Sie Schwerkraft in einem Raumschiff erzeugen möchten, können Sie es Captain James T. Kirk gleichtun und den entsprechenden Knopf drücken. In der realen Welt ist dies jedoch deutlich schwieriger zu bewerkstelligen. In einer berühmten Abhandlung schlug der Physiker Gerard K. O'Neill einen rotierenden Zylinder mit den Abmessungen (Durchmesser x Länge) 4 x 20 und einen weiteren mit 5 x 20 Meilen vor. Letzterer würde den Bewohnern auf seiner inneren Oberfläche eine erdähnliche Schwere verleihen. Dazu müsste man diesen Torus lediglich etwas mehr als 28 Mal pro Stunde um seine Längsachse drehen. Als Sahnehäubchen fügte Prof. O'Neill noch einen bescheidenen „äußeren landwirtschaftlichen Ring“ mit weiteren 20 Meilen Durchmesser hinzu.
Der entstehende Lebensraum könnte mehrere Millionen Menschen beherbergen. Wahrscheinlich hatte der Designer dabei die Bevölkerung New Yorks vor Augen – für ihn (der von dort stammte) naheliegend. Ich frage mich, ob eine solche Dimension geeignet wäre, die Menschheit in einer planetaren Notsituation zu retten. Nach einem katastrophalen Asteroiden-Einschlag auf der Erde ginge es eher um das Überleben als Spezies als darum, Kolonisten ins All zu schicken. Nach dem Verlust der technischen Unterstützung von Seiten der Erde müssen die Überlebenden im Weltraum die Möglichkeit haben, ihre Lebensgrundlagen selbst zu erhalten.
Daher sollte der Vorschlag auf eine menschlichere Größe reduziert werden. Motivation und Organisation in einer Population von einigen Tausend sind besser und leichter zu erreichen; und einige Tausend würden immer noch eine gesunde genetische Mischung ermöglichen. Es mag möglich sein, einige Jahre in einer Ansammlung von Ballonstationen mit Mikrogravitation zu überleben (siehe 'Transient human habitat in outer space'). Um jedoch über Generationen hinweg zu bestehen, bräuchten wir wahrscheinlich etwas Ähnliches wie Schwerkraft. Hierfür sollte ein kleinerer Zylinder mit (Durch- messer x Länge) 1.000 x 400 m ausreichen. Bei einer Umdrehung pro Minute erfährt die Besatzung angenehme 56% der Erdgravitation. Das könnte ausreichen, um negative gesund- heitliche Folgen der Schwerelosigkeit zu verhindern.
Der wissenschaftliche Fortschritt könnte es in naher Zukunft ermöglichen, im Weltraum leichte Zylinder (spezifische Masse < 2 g/cm³) zu errichten. Die Schwerkraft, sei sie natürlich oder „künstlich“, drückt stets gegen jedes Hindernis, sei es der Boden unter unseren Füßen oder die Hülle eines rotierenden Zylinders, und zwar mit einer Kraft, die proportional zur Masse des Objekts ist. Während wir Böden üblicherweise aus Stahl und Beton bauen, sollte im Weltaum Kohlefaser oder sogar Graphen das Material der Wahl sein. Die Wand eines rotierenden Zylinders muss nicht nur die gegen sie drückenden Objekte tragen; sie muss sich auch selbst tragen und Strahlungsschutz, Wärmeisolierung und absolute Dichtheit gewährleisten.
Ein erster Schritt könnte die Errichtung eines hexagonalen Gitters aus Kohlefaser (oder einem noch zu entwickelnden besseren Material) sein. Es hält in 3 Schichten Fächer zum Einfügen von Platten mit 1 m Durchmesser bereit. Sie sind 10 cm dick und halten 15 cm Abstand voneinander, wodurch zwischen ihnen 2 gleich große Hohlräume entstehen Das spart Gewicht und ergibt gute Wärmedämmung. Man erhält eine riesige Anzahl von Kammern, vorstellbar als harter Schaum im großen Maßstab. Gesamtdicke 0.6 m, mittlere Dichte 1 g/cm³ (ca. 45 % Hohlraum). Während die Platten für dichten Abschluss sorgen, steht das Gitter für die Stabilität. Diese könnte durch ein zugfestes Seil gewährleistet werden, das in Hohlstäben über Lager gespannt  jeweils 7 Elemente zusammen spannt (siehe pptx Datei am Ende des Textes).
Außerhalb des Erdmagnetfelds, das geladene Teilchen des „Sonnenwindes“ ablenkt, wären wir schädlicher Strahlung ausgesetzt. Aus diesem Grund benötigen beispielsweise auf dem Mars (ohne ein solches Feld) Habitate eine dicke, kompakte Abschirmung von mindestens einem Meter. In unserem Fall dringt die Sonnenstrahlung ausschließlich durch die Vorderseite ein. Statt die gesamte Hülle des Zylinders mit unnötiger Masse auszustatten, sollten wir die Strahlenschutz- maßnahmen auf die Vorderseite konzentrieren. Die Bewohner werden in den äußersten Randbereichen des rotierenden Torus wohnen. Um sie vor der Strahlung zu schützen, könnte an der Vorderseite in einigem Abstand (ca. 10 m) von der rotierenden Masse ein nicht rotierender 50 m starker Ring installiert werden. Bei einer hohen Massendichte könnte eine Dicke von 1 m ausreichen.
Grobe Schätzung ergibt eine Gesamtmasse von ca. 3 Millionen Tonnen (O'Neill: ca. 3 000 mt). Das Objekt könnte an einem der fünf Lagrange-Punkte der Erdumlaufbahn um die Sonne errichtet werden, wobei die Rotationsachse zur Sonne zeigt. Die Kolonie hat an der Vorderseite ein  rundes Fenster (100 m Durchmesser), transparent für möglichst viel Strahlung (nicht nur für sichtbares Licht). Nahrungsspendende Aggregate photosynthetischer Ballons kreisen in einer 365er-Kette (17 400 m über dem Zentrum der Kolonie) mit einer Umlaufperiode von 365.26 Tagen (siehe Titelbild). Jedes Ballonaggregat hat einen Durchmesser von etwa 100 m und schirmt nachts das einfallende Sonnenlicht ab. Die Masse kann auf 3 000 Tonnen geschätzt werden (ISS: 450). Die Gravitationskraft zwischen jedem Ballonaggregat und dem Zylinder beträgt 2.1 Millinewton (zum Vergleich: 1 kg Masse wird auf der Erde mit einer Kraft von 9.81 Newton nach unten gedrückt).
Die Ballonaggregate folgen einander auf ihrer Kreisbahn um die Kolonie. Der freie Abstand zwischen ihnen beträgt etwa das Doppelte ihrer Ausdehnung. Dadurch entsteht ein zirkadianer Rhythmus mit 16-Stunden-Tagen stabiler Helligkeit und langsam beginnenden und endenden 8-Stunden-Nächten. Sonnenlicht- leitende Glasfasern sorgen bei Bedarf für zusätzliche Beleuchtung. Die Ballonaggregate können gelegentlich besucht werden, werden aber in der Regel von Robotern gewartet. Für den Transport docken kleine Raumschiffe am dunklen Ende des Zylinders an. Hochenergetische Strahlung hilft Mikroorganismen in den äußersten Ballons, Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff als Treibstoff für Düsentriebwerke zu spalten (Herkunft dieses Wassers: siehe übernächster Absatz).
Die Weltraum-Exilanten benötigen zwei Arten von Raumschiffen. Die kleinen transportieren Menschen und Material zwischen den Stationen im Orbit. Ich rechne mit mindestens tausend Ballon-Aggregaten insgesamt. Ein paar hundert dieser „kleinen Raumschiffe“ könnten für ihren Transportbedarf ausreichen. Sie bieten zwar Platz für bis zu 20 Passagiere, transportieren aber in der Regel nur zwei Personen plus Fracht. Der zweite Schiffstyp ist für die voraussichtliche Rückkehr zur Erde vorgesehen. Dies wird ein „one-way-ticket“ für ein paar Tausend Menschen sein. Etwa zehn solcher Schiffe, jedes für ein paar Hundert Passagiere, könnten auf L2 (L2? Siehe übernächster Absatz) stationiert werden.
Wassereisblöcke in gasdichten Hüllen können in der extrem kalten Außenluft gelagert werden. Da es keine Versorgung mehr von der Erde gibt, sind wir auf lokale Vorräte angewiesen. Glücklicher- weise bietet jedes Ballonaggregat, das die Sonne umkreist, ein schattiges Plätzchen in seiner Nähe. Eine Ballonstation mit 3.000 Tonnen, die die Sonne in 365.26 Tagen umkreist, wird im selben Zeitraum von jedem Objekt umkreist, das sich in einer bestimmten Entfernung befindet (unabhängig von seiner Masse; meine Schätzung liegt zwischen 1 190 und 1 716 m; man muss es ausprobieren). Wenn beide in derselben Ebene kreisen, eröffnet dies die Möglichkeit, ein Bündel Eisblöcke dort zu platzieren, wo die Sonne nie scheint: im Schatten der Station. Sie werden hoffentlich dort bleiben: Da nur schwache Kräfte am Werk sind, muss die Position gelegentlich angepasst werden. Anders als die Masse des Eises wird die Masse der Station von Einfluss sein und je nach Besuchern, Pflanzenwachstum und Ernte schwanken. Eisblöcke können auch im dunklen Zentrum gelagert werden (statt eines Ballons).
Ein großer Vorrat an Eisblöcken kann auch hinter dem (dunklen) Ende des Zylinders Platz finden (nimmt nicht an der Rotation teil, trägt aber zur Masse bei). Deutlich mehr Wassereis könnte am Lagrange-Punkt 2 (L2) gelagert werden. Seit 2022 ist das James-Webb-Weltraumteleskop (6.2 Tonnen) in diesem Bezirk in Betrieb. L2 liegt auf einer Geraden durch Sonne und Erde, anderthalb Millionen Kilometer weiter entfernt als die Erde (1 % der Distanz Sonne-Erde). Wegen der enormen Größe der Sonne (109 Erddurchmesser) erreicht der Kern des Erdschattens L2 nicht ganz (ringförmige Sonnenfinsternis). Dennoch könnte dies ein guter Ort sein, um genügend Wassereis zu horten und mehrere Generationen von einigen tausend Menschen zu versorgen, die sparsam mit Wasser umgehen. Auch Ersatzteile für die Photosynthesestationen und den Zylinder könnten dort gelagert werden.
Aus Sicherheitsgründen sollte die riesige innere Halle des Zylinders luftdicht in zwei Abschnitte unterteilt werden, einen zur Sonne hin und einen im hinteren Teil. Der Grund liegt auf der Hand: Im Falle einer Beschädigung der äußeren Hülle könnte die Besatzung in der intakten Hälfte Schutz finden. Die Trennwand wird ein Fenster von der gleichen Größe wie die Vorderseite haben, das mit strahlungs-reaktiven Kacheln ausgestattet ist. Diese nehmen die Energie auf und streuen sie als sichtbares Licht auf beiden Seiten diffus in alle Richtungen (womöglich muss ein solches Material erst entwickelt werden). Es sollte ein Vorrat an Ersatzteilen auf Lager sein, darunter auch solche für die Außenhülle. Sie besteht aus Standardelementen einer für den Transport in konventionellen Raumfahrzeugen geeigneten Größe zum Zusammenbau vor Ort. Der Austausch beschädigter Elemente muss mit lokalen Mitteln möglich sein. Auch die Fenster werden nicht in einem Stück eingesetzt, sondern aus sechseckigen Kacheln zusammengesetzt.
Obwohl Zylinder vom Typ O'Neill manchmal mit Straßen und in kleinen Dörfern gruppierten Häusern dargestellt werden, dürften echte Behausungen in unserem verkleinerten Maßstab nicht notwendig sein. Die Umgebungs- bedingungen in den Hallen sollten ein Wohnen im Campingstil ermöglichen, ganz nach dem Geschmack der Besatzung. Konvektion wird wahrscheinlich von zur Mitte steigender Warmluft an der Vorderseite angetrieben. Das sollte zu milden Winden am Boden führen, von hinten nach vorne. Gebäude zur Trennung verschiedener Tätigkeiten (Landwirtschaft, Sanitäranlagen, Unterricht, Produktion, wissenschaftliche Forschung, Freizeit, Telekommunikation usw.) werden aus statischen Gründen dicht an den Wänden errichtet. Idealerweise sollten Produktionsanlagen für alle Module, aus denen die Ballonaggregate und der Zylinder bestehen, zur Verfügung stehen (inklusive die erforderlichen Rohstoffe). Am hinteren Ende ist kein großes Fenster vorgesehen, aber ein Blick in den Sternenhimmel (auch wenn er sich schnell dreht...) wäre schön. Zu diesem Zweck sollten einige der vorletzten Elemente (für die Bewohner subjektiv auf Augenhöhe) transparent sein.
Bei der Entwicklung komplexer technischer Lösungen ist Panik ein schlechter Ratgeber. Ein solches Projekt muss ohne unmittelbare Bedrohung am Horizont beginnen, getrieben allein von wissenschaftlicher Neugier. Ein verkleinerter Zylinder, wie hier vorgeschlagen, wäre für Forschungsorganisationen wie NASA oder ESA finanziell machbar. Selbst wenn nie ein tödlicher Impaktkörper auftaucht (hoffen wir es), wäre ein komfortabler Platz im Weltraum wünschenswert. Wir würden mit mehreren Ballon- aggregaten beginnen, um die Bedingungen für autarkes Leben im Weltraum zu erforschen. Der erste Zylinder wird nur für Pflanzen errichtet (keine Bäume – zu schwer). Wir brauchen Zeit, um den optimalen Aufbau zu finden. Beispielsweise könnte untersucht werden, ob ein riesiger zentraler Stabmagnet, der mit dem Zylinder rotiert, den Sonnenwind ablenken kann (oder genügt schon allein die durch Strahlung hervorgerufene Ladungsdifferenz zwischen vorne und hinten?). Oder ob man mit der Errichtung im Erdschatten auf L2 beginnen und erst nach Fertigstellung des Strahlenschutzschirms mit der Baustelle an einen sonnigeren Platz übersiedeln könnte. Oder wieviel IR-Strahlung durch die Vorder- und Mittelwände durchgelassen werden sollte, um eine angenehme Raumtemperatur zu erreichen.
Als Prof. O'Neill vor einem halben Jahrhundert seinen Zylinder vorschlug, dachte er an zwei gegenläufig rotierende, um Kreiseleffekte zu vermeiden. In unserer Zeit mit schnellen und leistungsfähigen Computern ist diese Vorsichts- maßnahme möglicherweise nicht mehr nötig. Zwar weist ein Kreisel oft eine ausgeprägte Präzession um die Rotationsachse auf. Anderer- seits strebt er aber auch gerade wegen seiner Rotation nach einer aufrechten Orientierung. An strategischen Punkten positionierte und von schnellen Computern gesteuerte Düsentriebwerke könnten womöglich jede Abweichung von der stabilen und vollständig aufrechten Ausrichtung verhindern. Ähnliche Programme werden die kleinen Triebwerke in den Ballonaggregaten steuern, um sie auf ihrer vorgesehenen Bahn um die Kolonie zu halten.
Jedes der 365 Ballonaggregate führt im Zylinder zu einer der 365 Nächte eines Jahres. Es kann für das seelische Wohlbefinden der Besatzung wichtig sein, ihr irdisches Uhrwerk in Aktion zu sehen. Im Katastrophenfall nährt dies die Hoffnung der Überlebenden auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimatwelt, wenn nicht für sich selbst, dann zumindest für ihre Kinder oder Enkel. 
Aufbau des Zylinders (powerpoint Datei)
MB (4/25)
overview
back to Cosmology & Space Flight