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The Madiso Avenue Journal |
Die Summe unter dem Strich |
Manche meinen, der Mensch ist ein Lebewesen. Er bestünde aus Zellen und Makromolekülen, gewinne Energie aus dem Umsatz organischer Materie, gehe aus seinesgleichen hervor, und setze selbst seinesgleichen in diese Welt. Es ist etwas Wahres daran, doch beschreibt es nicht, was der Mensch wirklich ist. |
Andere sagen, der Mensch ist ein geistiges Wesen. Er denke nach über sich und die Welt, entwerfe Modelle der Realität, und sei berufen kraft seiner Vernunft über den Dingen zu stehen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, aber wieder nur ein ziemlich kleiner. |
Die ganze Wahrheit ist, daß es keinen einzelnen Menschen gibt. Ein Mensch für sich allein ist kein Mensch. Jeder Mensch ist ein Gewordener, geformt, hineingewachsen in eine Gruppe, in engere und weitere Sphären von Kommunikation und Interaktion. Das beginnt schon vor der Geburt, und es hört niemals auf. |
Die erste, innerste Sphäre ist der Uterus, in dem wir bereits einen ersten Vorgeschmack auf einige Grundtatsachen des Lebens bekommen. Auch wenn sich keiner daran erinnert: Der mütterliche Herzschlag wird uns kaum entgangen sein, und auch nicht der zirkadiane Aktivitäts-Rhythmus. |
Spätestens mit der Geburt wird es für uns unumgänglich, Wünsche und Beschwerden zu äußern. Und schon beginnen die ersten Schwierigkeiten, denn nicht immer werden diese Wünsche optimal befriedigt, und nicht allen Beschwerden wird prompt entsprochen. Zwar gibt es meistens liebende Mütter und Väter, doch die äußeren Zwänge, die gibt es auch. |
Die liebenden Mütter und Väter sind nämlich selten perfekt. Punkt 1, haben sie Launen; Punkt 2, haben sie Pflichten; und Punkt 3, fehlen ihnen nur allzu oft die Mittel, jeden Bedarf sofort im erwünschten Ausmaß zu decken. Doch wenn sie sich Mühe geben, machen sie den einen oder anderen Schnitzer wett mit lieben Worten und Zuwendung, der wir uns nicht verschließen können. |
So kommt allmählich das eine zum anderen. Menschen tun etwas für andere Menschen, und nehmen gern die Freundlichkeiten anderer Menschen an. Bald lernen wir, was von uns erwartet wird. Vermutlich versuchen wir alle am Anfang, mehr zu nehmen und nur ein Minimum zu geben. Doch die strafenden Signale treffen bei uns ein und bringen uns dazu, uns so zu verhalten, daß unter dem Strich die Rechnung für uns positiv wird. |
Das System funktioniert. Es hat Jahrtausende lang relativ gut funktioniert. Jahrtausende lang gab es fröhliche, unselbstständige Kinder, rabiate und provokante Jugendliche, und schließlich Erwachsene unterschiedlichster Ausformung, solche mit positiver, und auch solche mit negativer Summe unter dem Strich. Die Regeln, nach denen dies alles geschah, blieben meist im Verborgenen. |
Die meisten Regeln, nach denen wir Menschen funktionieren, werden nie (oder nur sehr selten) ausgesprochen. Manche Verhaltensweisen werden Kindern anerzogen, bevor sie der verbalen Argumentation überhaupt zugänglich sind. Der Wert vieler solcher Verhaltensregeln wird nur selten öffentlich diskutiert. Hier werden ganze Bündel von Wertvorstellungen stillschweigend von einer auf die nächste Generation weitergereicht. |
Das Resultat sind Menschen, die Wertvorstellungen haben, ohne zu wissen, daß sie sie haben. Wenn Menschen über Jahrzehnte im selben Kommunikationszusammenhang leben (und das tun Menschen immer, in mehr oder weniger großen Gruppen), bilden sich gemeinsame Wertvorstellungen heraus, welcher Art auch immer, zum Teil reflektiert, zum weitaus größeren Teil unreflektiert. |
Warum halten sich Menschen an Regeln, selbst wenn sie
lästig sind? Sie tun es wegen der Summe unter dem Strich. Wer berechnet die
Summe unter dem Strich? Die Gesellschaft, in der die Menschen aufgewachsen sind.
Und was passiert, wenn es diese Gesellschaft nicht mehr gibt? Eine unsinnige Frage? |
Millionen sind in dieser Welt gezwungen, in Gesellschaften zu leben, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Wie sollen sie sich an Regeln halten, die ihnen nicht einmal bewußt sind? Ohne all die Signale, die richtig zu deuten sie intuitiv gelernt haben? Plötzlich sind sie umgeben von Signalen, die sie nicht verstehen, nicht verstehen können. Unter dem Strich bleibt eine unbekannte Größe. |
Heimat ist dort, wo wir auf soziale Signale reagieren, ohne uns darauf konzentrieren zu müssen. Wieviel Heimat haben wir noch? Sie wird immer seltener, diese Heimat. Sie fehlt uns. Und wie sie uns fehlt! |