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Beirut in ruins BBC 1980 |
Ich werde alt. An einem Samstag, kurz vor Mitternacht, habe ich nichts Besseres zu tun als vor dem Fernseher zu sitzen. Auf dem 2. Kanal hat eine Aufzeichnung von den Salzburger Festspielen begonnen. Shakespeare. Auch wenn ich der Sprache Einiges abgewinnen kann, dem Inhalt kann ich nichts abgewinnen. Ich spiele mit dem Gedanken, wieder auf den 1. Kanal umzuschalten. Das ist ein Schritt, der reiflich überlegt sein will, denn eine Fernbedienung gibt es nicht, und der Schrank, auf dem der Fernseher steht, ist hoch. |
Was lief doch gleich im 1. Programm? Vor ein paar Minuten wußte ich es noch. Irgendeine Tschin-Bum-Geschichte. Karate? Nein, Karate war es nicht. |
In letzter Zeit passiert es mir oft, daß ich unwillkürlich mein Gehirn beim Nachdenken beobachte. Es fasziniert mich, zu beobachten, wie meine Gedanken versuchen, auf etwas zu kommen und wie sie eine Zeit lang scheinbar hilflos umhertappen, so, wie man auf der Suche nach einem Bleistift auf die Papiere faßt, die den Schreibtisch bedecken. Versuchen Sie es doch selbst einmal. Wissen Sie, wer in dem Hollywood-Klassiker Moby Dick den Captain Ahab gespielt hat? Sie wissen es, aber der Name fällt Ihnen nicht ein; Sie sehen sein Gesicht vor sich, wissen auch, in welchen Filmen er noch gespielt hat, aber der Name, der Name... Wahrscheinlich fallen Ihnen auch ein halbes Dutzend Namen ein, von denen Sie sicher sind, daß sie nicht stimmen. Aber wenn Sie Glück haben, kommt plötzlich dieser einzigartige Moment, und von einer Sekunde auf die andere wissen Sie den Namen, den ganzen Namen. Irgendwie ist es Ihren suchenden, hin- und herlaufenden Gedanken gelungen, die richtigen Saiten zum Klingen zu bringen, und zuletzt ging es dann ganz schnell, geradezu blitzartig: Plötzlich war der Name in Ihrem Ohr, und Sie sind jetzt sicher, daß er stimmt (der Schauspieler heißt übrigens Gregory Peck). |
Zurück zu meinem wenig erbaulichen Fernsehabend. Ich war gerade dabei, darüber nachzudenken, worum es in dem Film im 1. Programm ging, um abwägen zu können ob es sich auszahlte, auf den Stuhl vor dem Schrank zu klettern. Shakespeare war immer noch weniger schlimm als Karate-Tiger, und ich hatte noch keine Lust, schlafen zu gehen. Ich konnte fühlen, wie meine Gedanken durch die diversen Actionfilm-Genres wanderten, auf der Suche nach einem Anhaltpunkt. Vor mir lag das Programm, in dem ich noch vor wenigen Minuten gelesen hatte, und ich hätte nur einen kurzen Blick darauf werfen müssen. Aber ich wollte selbst darauf kommen; mein Denkapparat sollte beweisen, daß er das Futter wert war, daß ich tagtäglich zu seiner Erhaltung in meinen Körper hineinschob. |
Und dann, von einem Moment zum anderen, wußte ich es wieder. Mehr noch: ich wußte auch, warum ich es wußte. Die Gedanken, die ich noch vor 10 Minuten beim Lesen der Kurzbeschreibung im Programm hatte, sind wieder aufgetaucht, aufgrund eines einzigen Zauberwortes: Beirut. Dieses Wort war der Schlüssel. Sobald dieses eine Wort in meinem Ohr war, wußte ich alles. Der Text bestand aus ein paar Dutzend Worten. Warum gerade dieses eine? Weil es für mich mit Emotionen verbunden ist. Beirut war in den letzten Jahrzehnten ja leider oft genug in den Schlagzeilen. Erinnerungen, die mit Emotionen verbunden sind, hinterlassen deutliche Spuren. |
Man könnte daraus schließen, daß im Kern jeder Erinnerung eine Emotion steckt, und daß wir uns eines Gedanken bewußt werden, sobald diese Emotion aktiviert wird. Unser Bewußtsein beschränkt sich keineswegs auf abstrakte, von der Materie, der Physiologie losgelöste Gedanken. Im Gegenteil: Reine Gedanken gibt es nicht. Sie würden uns niemals einfallen. All unsere Gedanken haben eine endokrin-animalische Grundlage. Unsere Aufmerksamkeit kreist um Gewalt, Sex, Angst, Macht, Eitelkeit. Unser Bewußtsein ist eine recht handgreifliche Angelegenheit. Seinen Sitz würde ich am ehesten im limbischen System vermuten, vielleicht in der Amygdala (in seinem Buch "The feeling of what happens" siedelt es Antonio Damasio sogar noch tiefer an). Dieses System spielt sozusagen die erste Geige. |
Übrigens: Der Film mit Schauplatz Beirut hat sich dann leider als ein Schmarren erwiesen. |